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»Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens« von »Les Convivialistes« ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 3.0 International Lizenz.
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Frank Adloff im Video-Interview
Konvivialismus - zum Hintergrund einer Debatte
"Es gibt schon ein richtiges Leben im falschen."
von Frank Adloff
(zugleich: Einleitung der deutschen Fassung des Manifestes)
Im Jahr 1972 erschien der Bericht an den Club of Rome »Die Grenzen des Wachstums«, den das Exekutivkomitee des Club of Rome wie folgt kommentierte: »Wir sind über- zeugt, dass eine klare Vorstellung über die quantitativen Grenzen unseres Lebensraums und die tragischen Konsequenzen eines Überschießens seiner Belastbarkeit dafür wesentlich ist, neue Denkgewohnheiten zu entwickeln, die zu einer grundsätzlichen Änderung menschlichen Verhal- tens und damit auch der Gesamtstruktur der gegenwärtigen Gesellschaft führen.« (Meadows et al. 1972) Diese Einschätzung und implizite Warnung hat nichts an Aktualität verloren - im Gegenteil. Der Klimawandel wird in seinen ökologischen und sozialen Auswirkungen immer konkreter und rückt in fassbare Nähe, die Endlichkeit fossiler Ressourcen ist keine abstrakte Größe mehr, das Artensterben schreitet voran, ökologisch motivierte Bewegungen und Parteien sind in einer Vielzahl von Ländern über die letzten Jahrzehnte gegründet worden, und die Menschheit scheint allmählich zu begreifen, dass großer Handlungsbedarf besteht. Doch zu wenig geschieht bisher auf globaler Ebene. Die dringend gebotene globale Kooperation der Staatengemeinschaft, die es bräuchte, um dem Klimawandel entschlossen gegenüberzutreten, stagniert seit Jahren. Hinzu kommen weitere massive Bedrohungen eines friedlichen und gerechten menschlichen Zusammenlebens: Große Teile Afrikas werden von Kriegen, korrupten Regierungen, Hunger und Vertreibung zerrüttet; die sozialen Ungleichheiten wachsen in vielen Ländern dramatisch, und die Wirtschafts-, Staatsverschuldungs- und Finanzkrise ist längst nicht überwunden. Das Projekt Demokratie ist vielerorts auf entkernte formale Prozeduren reduziert, und wir sind auch weiterhin Zeugen von Terrorismus, Bürger- und ethnischen Kriegen.
In dieser Situation hat eine Gruppe von hauptsächlich französischen Wissenschaftlern und Intellektuellen ein Manifest herausgegeben, das von Umkehr und einer positiven Vision des Zusammenlebens spricht: das konvivialistische Manifest. Nur eine weitere wohlfeile Kritik der Gesellschaft und ein gut gemeinter Appell zum Wandel? Was bewirkt schon der Aufruf einiger Philosophen und Sozialwissen- schaftler, wird man fragen wollen und müssen.
Die Besonderheit des vorliegenden Manifests besteht darin, dass sich eine große Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ganz unterschiedlicher politischer Überzeugungen auf einen Text einigen konnte, der in groben Zügen benennt, welche Fehlentwicklungen zeitgenössische Gesellschaften durchlaufen. Hier identifiziert das Manifest zwei Hauptursachen: den Primat des utilitaristischen, also eigennutzorientierten Denkens und Handelns und die Verabsolutierung des Glaubens an die selig machende Wirkung wirtschaftlichen Wachstums. Zum anderen wird diesen Entwicklungen eine positive Vision des guten Lebens4 entgegengestellt: Es gehe zuallererst darum, auf die Qualität sozialer Beziehungen und der Beziehung zur Natur zu achten. Dazu wird der Begriff des Konvivialismus (con-vivere, lat.: zusammenleben) herangezogen. Der Begriff soll anzeigen, dass es darauf ankomme, eine neue Philosophie und praktische Formen des friedlichen Miteinanders zu entwickeln. Das Manifest will deutlich machen, dass eine andere Welt möglich - denn es gibt schon viele Formen konvivialen Zusammenlebens -, aber auch angesichts oben genannter Krisenszenarien absolut notwendig ist (wie eindringlich auf der Website der Konvivialisten herausgestellt wird, siehe www.lesconvivialistes.fr).
Der vorliegende Text ist das Ergebnis von Diskussionen, die anderthalb Jahre zwischen etwa 40 französischsprachigen Personen geführt wurden, so dass der Text nicht als das geistige Eigentum Einzelner gelten kann. Wie in der Einleitung des Manifests betont wird, besteht die große Leistung zunächst darin, dass man tatsächlich eine Einigung erzielen konnte, obwohl die Autoren und Autorinnen ansonsten bei einer großen Zahl von Themen ganz unterschiedlicher Auffassung sind. Dabei haben auch international bekannte Wissenschaftler und Intellektuelle wie Chantal Mouffe, Edgar Morin, Serge Latouche, Eva Illouz und Ève Chiapello mitgewirkt und das Manifest erstunterzeichnet. Politisch reicht das Spektrum vom Linkskatholizismus, über sozialistische und alternativ-ökonomische Perspektiven zu Mitgliedern von Attac hin zu Intellektuellen aus dem Umfeld des Poststrukturalismus. Auch international einflussreiche öffentliche Intellektuelle wie Jeffrey Alexander, Robert Bellah, Luc Boltanski, Axel Honneth und Hans Joas zählen mittlerweile zu den Unterzeichnern. Darüber hinaus, und dies scheint mir für die Frage nach einer politischen Wirkung des Texts besonders relevant zu sein, wurde das Manifest auch von vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Initiativen in Frankreich unterzeichnet.
Die Initiative zu dem Manifest geht auf ein Kolloquium in Japan aus dem Jahr 2010 zurück. Unter dem Titel »De la convivialité. Dialogues sur la societé conviviale à venir« erschienen dazu 2011 die Kolloquiumsbeiträge von Alain Caillé, Marc Humbert, Serge Latouche und Patrick Viveret. Zusammen mit Alain Caillés kleinem Band »Pour un manifeste du convivialisme« (ebenfalls 2011 erschienen) gaben die Beiträge den Anstoß zur Debatte um den Konvivialismus.
Auf dem Kolloquium in Tokio wurden die Begriffe Konvivialität und Konvivialismus unter starker Bezugnahme auf die Schriften von Ivan Illich diskutiert. Der österreichischamerikanische Philosoph und Autor (1926-2002) war ein radikaler Technik- und Wachstumskritiker und führte 1975 in seinem Buch »Selbstbegrenzung« (im Orig.: »Tools for Conviviality«) eben diesen Begriff ein. Das Buch fand eine große internationale Resonanz und wurde in Frankreich von André Gorz bekannt gemacht. Ähnlich wie dem mit Illich befreundeten Erich Fromm ging es Illich um die technik- und kapitalismuskritische Wiederherstellung des Primats des ›Seins‹ vor dem ›Haben‹. Illich führt den Begriff »konvivial« ein, um eine Gesellschaft zu bezeichnen, die ihren Werkzeugen (dies können Techniken, aber auch Institutionen sein) vernünftige Wachstumsbegrenzungen auferlegt. Wird einer Technik keine Wachstumsbeschränkung auferlegt, zeigt sie nach Illich die Tendenz, dass ihre Leistungen sich ins Gegenteil verkehren. So sind Wissenschaft und Technik heute nicht mehr allein Problemlöser, sondern auch Produzenten von Problemen, worauf dann mit noch mehr Technik geantwortet wird. Auf diese Weise überschreiten gesellschaftliche Werkzeuge eine Schwelle und beschneiden individuelle Freiheit. Wenn bspw. in amerikanischen Städten wie Los Angeles das Auto zur einzigen Fortbewegungsmöglichkeit geworden ist, da man weder Fahrrad und Bus fahren noch zu Fuß gehen kann, dann hat sich innerhalb der Verkehrsinfrastruktur ein radikales Monopol von Automobilen herausgebildet, dem man sich nicht mehr entziehen kann und das die individuelle Freiheit unterminiert. Die Kontrolle über die gesellschaftlichen Werkzeuge sollte nach Illich nicht in den Händen von solchen Infrastrukturen und Expertensystemen liegen, sondern in denen der Allgemeinheit; nur so ist Konvivialität erreichbar. Dazu bedarf es aber einer radikalen Umgestaltung der gesellschaftlichen Institutionen nach konvivialen Kriterien.
Eine zweite, viel ältere Wurzel des Begriffs der Konvivialität findet sich an einer ganz anderen Stelle: Der Wachstumskritiker Serge Latouche (2011: 66) weist darauf hin, dass der Begriff zuerst im frühen 19. Jahrhundert von dem Gastronomen und Philosophen Jean Anthèlme Brillat-Savarin erfunden und geprägt wurde. Brillat-Savarin benennt in seinem Buch »La physiologie du goût, ou Méditations de gastronomie transcendante« (1825) damit die Freude des Beisammenseins, der guten und freundschaftlichen Kommunikation im Rahmen einer Tischgesellschaft. Konvivialität beschreibt also den freundlichen Umgang, den Menschen untereinander pflegen können, sowie ein freiheitliches Verhältnis, das sie zu den »Dingen« (seien es Gegenstände, Infrastrukturen, Institutionen oder Techniken) haben können (vgl. Humbert 2011). Im Alltagsgebrauch der französischen Sprache ist der Ausdruck »convivial« ebenfalls fest etabliert.
Dem Band »De la convivialité« lassen sich zwei weitere Diskursstränge entnehmen, die in die Formulierung der konvivialistischen Vision einflossen. Zum einen das anti-utilitaristische Denken von Alain Caillé (und Marcel Mauss), zum anderen die Wachstums- und Ökonomiekritik von Patrick Viveret und Serge Latouche. Der Philosoph Viveret (geb. 1948) arbeitet seit geraumer Zeit an einer Neudefinition von Reichtum und Wohlstand und verfasste schon mehrere Berichte für die französische Regierung. Für ihn besteht die Wurzel der gegenwärtigen Krise in der strukturellen Maßlosigkeit des Produktivismus der Moderne, sowohl in seiner kapitalistischen als auch in seiner sozialistischen Variante (Viveret 2011). Andere Kriterien des guten Lebens und des Wohlstands seien nun dringend gefordert, um die Fixierung auf ökonomisches Wachstum zu durchbrechen. Insbesondere die Maßzahl des Bruttoinlandsprodukts (BIP) muss nach Viveret neu überdacht werden. Prominentester Vertreter der Forderung nach einer Wachstumsrücknahme (décroissance1, degrowth) ist der Ökonom Serge Latouche (geb. 1940). Er tritt ein für eine Gesellschaft des einfachen Wohlstands (societé d’abondance frugale) und wie Viveret für eine Neudefinition von Reichtum, die sich konkret gegen die ökonomische Quantifizierungslogik des BIP richtet, da diese Wohlstand allein materiell und monetär definiert (Latouche 2009, 2011). Eine konviviale Gesellschaft muss aus seiner Sicht die Idee des ökonomischen Wachstums radikal in Frage stellen und sich selbst begrenzen. Neue Formen des Wirtschaftens sind gefordert, die den Kreislauf der permanenten Kreation von immer mehr und prinzipiell unbegrenzten Bedürfnissen durchbrechen. Serge Latouche (2011: 61ff.; 2010) plädiert stattdessen für einen neuen ökonomischen circulus virtuosus des Maßhaltens, der mit acht Begriffen umschrieben werden kann: neu bewerten, umdenken, umstrukturieren, lokalisieren, umverteilen, reduzieren, wiederverwenden, recyceln. Wachstum bloß um des Wachstums willen kann hingegen als Religion der Ökonomie bezeichnet werden. Deshalb könn- te man, so betont Latouche, sein Konzept auch im Englischen als »a-growth« (so wie man von A-Theismus spricht) bezeichnen, um deutlich zu machen, dass es auch um die mentale Überwindung der Religion des Ökonomischen und des Konzepts des homo oeconomicus geht. Die Irrationalität dieses Glaubens zeige sich auch in der Tatsache, dass es keinen klaren positiven Zusammenhang zwischen monetärem Wohlstand und Glück und Zufriedenheit gibt.
Die Wurzeln der Idee von der Wachstumsrücknahme liegen einerseits in Auseinandersetzungen mit der ökologischen Krise und stammen andererseits aus dem Umfeld der Entwicklungspolitik, wo unter dem Begriff des post-development (wiederum an Illich anschließend) die Modernisierung des Südens entlang der westlich-ökonomischen Wachstums- und Entwicklungslogik kritisiert wird. Latouches degrowth bezeichnet allerdings keine monolithische Alternative zum bestehenden Kapitalismus, vor allem auch keine Ökonomie ohne Märkte, sondern »a matrix of alternatives which re-opens a space for creativity by raising the heavy blanket of economic totalitarianism« (Latouche 2010: 520). Zu dieser Matrix zählen etwa der Nonprofit-Sektor, Sozial- und solidarische Ökonomie, Tauschringe oder regionale Währungen. Allerdings kann in den bestehenden Kulturen und Gesellschaftsstrukturen nicht einfach das Konzept des degrowth eingeführt werden - zu groß wären die sozialen Verwerfungen, solange noch die Legitimität gesellschaftlicher Basisinstitutionen (Arbeit, soziale Sicher- heit, Demokratie, Selbstverwirklichung) vom Wachstum abhängen. Eine vom Wachstum abhängige Gesellschaft kann sich die Rücknahme des Wachstums nur als Katastrophe vorstellen: »Degrowth is thus possible only in a ›society of degrowth‹« (ibid.: 521). Ohne Abrücken vom Produktivismus, ohne Reduktion der Arbeitszeit, des Konsums und der Konsumwünsche kann Latouches Vision nicht funktionieren. Doch ist für ihn eine solche Selbstbegrenzung nicht nur eine Möglichkeit, sondern auch eine Notwendigkeit angesichts anstehender sozialer und ökologischer Krisen.
Auf welcher sozialen Logik kann dann Selbstbegrenzung beruhen, was ist die Alternative zum Streben nach Gewinn, Wachstum und Konsum? Auf welche Handlungslogik könnte sich eine konviviale Gesellschaft stützen? Diesen Fragen geht vor allem Alain Caillé (geb. 1944, Professor für Soziologie an der Universität Paris X) nach, der als der eigentliche spiritus rector des konvivialistischen Manifests gelten kann (auch wenn er dies in seiner Bescheidenheit niemals zugeben würde) und der durch die begriffliche Transformation von konvivialen Ideen hin zum Konvivialismus politisches Konzept und Bewegung geprägt hat. Für ihn lautet die alles entscheidende Frage, wie Menschen ohne Gemeinschafts- und Konformitätszwang zusammenleben können, und ohne sich (in seinen Worten) gegenseitig niederzumetzeln. Eine Antwort erblickt Caillé im »Paradigma der Gabe«, das er in den letzten 20 Jahren maßgeblich mitentwickelt hat und das er auf den Soziologen und Ethnologen Marcel Mauss (1872-1950) zurückführt. Mauss beschrieb, wie der Austausch von Gaben zwischen Gruppen von Menschen diese zu Verbündeten macht, ohne ihre prinzipielle Agonalität, also ihre kämpferische Auseinandersetzung aufzuheben. In der agonalen Gabe erkennen sich Menschen als Menschen gegenseitig an und bestätigen sich wechselseitig ihrer Wertschätzung. Der Konvivialismus greift diesen Gedanken auf und betont, dass allein die Anerkennung einer gemeinsamen Menschheit und einer allen gemeinsamen Sozialität die Basis für ein konviviales globales Zusammenleben sein kann (Caillé 2011a: 21). Radikale und universelle Gleichheit ist für Caillé mithin eine Bedingung konvivialen Zusammenlebens, was ihn (2011b) dazu bringt, zweierlei Einkommensbeschränkungen zu fordern: ein Minimum und ein Maximum. Niemand sollte unter ein Einkommensminimum fallen, und niemand hat das Recht, unbegrenzten Reichtum anzuhäufen.
Bevor Caillés konkrete Vorarbeiten für das Manifest weiter ausgeführt werden, soll ein kurzer Blick auf seine vorhergehenden Arbeiten geworfen werden, um besser nachvollziehen zu können, was es mit der »Logik der Gabe« auf sich hat und welche Rolle der schon erwähnte Marcel Mauss für das konvivialistische Projekt spielt. Caillé gilt nämlich auch als der geistige Kopf der sog. M.A.U.S.S.-Bewegung (»Mouvement Anti-Utilitariste dans les Sciences Sociales« bzw. »Anti-utilitaristische Bewegung in den Sozialwissenschaften«). Zusammen mit Gérald Berthoud und weiteren französischsprachigen Wissenschaftlern aus Frankreich, Kanada und der Schweiz gründete er Anfang der 1980er Jahre unter diesem Namen ein loses wissenschaftliches Netzwerk. Während in der Gründungsphase zunächst nur ein schmaler Newsletter, das Bulletin du MAUSS (1982-1988), den Verständigungsprozess innerhalb der Gruppe dokumentierte, wurde in den Jahren 1987/88 daraus die Revue du MAUSS, deren Hefte seither zweimal im Jahr erscheinen. In der Zeitschrift wird Marcel Mauss’ Gabentheorie vorangetrieben und Mauss zugleich dazu genutzt, eine handlungstheoretische Alternative zu existierenden soziologischen Paradigmen aufzubauen.
Die meisten dieser theoretischen Gedanken beruhen auf Marcel Mauss’ Essay Die Gabe aus dem Jahr 1924, seiner zweifellos berühmtesten Publikation (Mauss 1978 [1924]). Dort synthetisiert Mauss die ethnologische Forschung seiner Zeit (etwa von Franz Boas und Bronislaw Malinowski) und entfaltet die These, dass archaische und vormoderne Gesellschaften sich symbolisch und sozial über den Zyklus von Geben, Annehmen und Erwidern reproduzieren. Die dargereichten Gaben zwischen Gruppen erscheinen Mauss zufolge auf den ersten Blick als freiwillig, haben jedoch einen ausgesprochen verpflichtenden Charakter und sind zyklisch aufeinander bezogen. Der Charakter der Gabe – so Mauss - ist ambivalent, bewegt sich der Gabentausch doch zwischen dem Pol der Freiwilligkeit und Spontaneität auf der einen und dem Pol der sozialen Verpflichtung auf der anderen Seite. Das Geben einer Gabe ist ein zutiefst mehrdeutiger Prozess, der von Mauss nicht ökonomistisch durch Eigennutz oder moralistisch als rein altruistisches Geben verstanden wird. Stattdessen betont Mauss die geradezu agonale Seite des Gebens: Man kann eine Gabe nicht ignorieren, man muss auf sie wie auf eine Herausforderung reagieren, die man entweder erwidert oder deren Erwiderung man verweigert (was ebenfalls einer Erwiderung gleichkommt: nur einer negativen).
Mauss wollte mit seinem Essay Die Gabe keineswegs nur Beschreibungen und Erklärungen der Strukturen vormoderner Gesellschaften liefern. Seine Ambitionen waren größer, er verfolgte eine Art Archäologie: erstens die ihn damals umgebenden vormodernen Gesellschaften zu untersuchen, zweitens die Vorläufer unserer modernen Gesellschaft zu beschreiben und drittens soziologisch nachzuweisen, dass die Moral und Ökonomie der Gabe »sozusagen unterschwellig auch noch in unseren eigenen Gesellschaften wirken« und sie einen der »Felsen« bilden, »auf denen unsere Gesellschaften ruhen« (Mauss 1978: 14). Mauss hatte somit also durchaus auch gegenwartsbezogene Fragen im Blick, stand er doch in der französischen Tradition der Kritik des Utilitarismus und sympathisierte stark mit der Genossenschaftsbewegung und anderen Konzepten und Praktiken autonomer Selbstverwaltung (Fournier 2006: 106ff.). Seine politischen Interventionen basierten dabei auf der doppelten Kritik am utilitaristischen Individualismus einerseits und am bolschewistischen Staatszentrismus andererseits (vgl. Chiozzi 1983). Mauss ging es um ein drittes Prinzip: um Solidarität als eine Form wechselseitiger Anerkennung durch Gabentausch, welche auf sozialen Bindungen und wechselseitigen Verschuldungen beruht. Die Krux lag für ihn darin, dass die modernen Sozialbeziehungen zunehmend dem Modell des Tausches, des Marktes und des Vertrags folgen: »Erst unsere westlichen Gesellschaften haben, vor relativ kurzer Zeit, den Menschen zu einem ›ökonomischen Tier‹ gemacht. Doch sind wir noch nicht alle Wesen dieser Art. […] Der homo oeconomicus liegt nicht hinter uns, sondern vor uns […]« (Mauss 1978: 135). Im Unterschied zu späteren modernisierungs- und differenzierungstheoretischen Ansätzen ging Mauss also davon aus, dass auch in modernen Marktgesellschaften die praktische Logik der Gabe nicht vollständig ausgelöscht wird und sie einen »Felsen« der Moral zu bilden vermag.
Die Motive der Gabe lassen sich nach Caillé in einem Viereck aus »Interesse an« und »Interesse für«, aus Pflicht und Spontaneität aufspannen2. Die Gegenüberstellung zwischen Pflicht und Spontaneität findet sich auch in anderenTexten Caillés; die Polarität zwischen »Interesse an« und »Interesse für« versucht Caillé allerdings immer wieder mit Hilfe neuer, ihm angemessener scheinender Begriffe zu reformulieren: So stellt er (2008, 2009) der Eigennützigkeit eine Form von Freundschaft(-lichkeit) gegenüber, die er aimance nennt.
Für Caillé (und Mauss) spielt sich das Geben in einem solchen spannungsgeladenen »Viereck« ab. Dies wird mittlerweile auch von anderen Autoren so gesehen, etwa wenn Marcel Hénaff (2009) betont, dass die Mauss’sche zeremonielle Gabe nicht mit einer ökonomischen Gabe, aber auch nicht mit einer altruistisch-moralischen Gabe verwechselt werden darf. Gaben und Vertrauen sind mithin fundamental bedeutsam für die Kooperation von Handelnden und die Herstellung von sozialer Ordnung überhaupt, und sie können es nur deshalb sein, da sie paradoxerweise obligatorisch und frei, eigennützig und uneigennützig sind. Das Geben beinhaltet immer auch das Risiko, dass der Bindungsversuch fehlschlägt. Gesellschaft und Gemeinschaft kommen also größtenteils nur dadurch zustande, dass Gabenbeziehungen sowohl auf der Ebene von Mikrointeraktionen als auch auf der gesellschaftlichen Meso- und Makroebene wirksam werden. Die Gabe ist für Caillé vor allem in den Geselligkeitsformen auffindbar, die zwischen Verwandten, Bekannten, Freunden und Kollegen bestehen. In dieser primären Sozialität dominiert die Gabe sogar; sie ist dem menschlichen Leben inhärent und ermöglicht gleichsam Entwicklung und Wachstum. Die sekundäre Sozialität erweitert diese erste Orientierung der Menschen: Sie konstituiert vor allem über anonymisierte, unpersönliche Beziehungen ein Verhältnis zur Gesamtgesellschaft und zum öffentlichen Raum - und der Gabenlogik fällt es hier schwerer Fuß zu fassen, wenngleich sie auch hier nicht verschwindet.
Caillé entwickelte sich mehr und mehr vom Sozialtheoretiker zum reformorientierten, politischen Protagonisten der M.A.U.S.S.-Bewegung, zum Verfechter eines »Dritten Wegs« jenseits der Verabsolutierung von Staat und Markt. Seit Ende der 1990er Jahre ergreift er in politischen Debatten das Wort, zumal er von der Relevanz des Gabe-Diskurses für die Thematisierung praktischer sozialpolitischer Probleme überzeugt ist, wie sie bspw. in der Debatte um ein Grundeinkommen, um die Verkürzung der Arbeitszeit, um die Stärkung der Zivilgesellschaft oder im Rahmen der Globalisierungskritik angesprochen werden. In alternativen, zivilgesellschaftlich organisierten Wirtschaftsformen erblickt er beispielsweise die Möglichkeit, nicht-kapitalistische Weisen des Gütertransfers mit dem Anerkennungs- und Bündnischarakter der Gabe zu verbinden. Dabei geht es ihm nicht um die Ersetzung der kapitalistischen Wirtschaftsweise, sondern um deren Ergänzung um alternative Austauschformen. Eine freiwillige Assoziation ist für Caillé etwa dadurch gekennzeichnet, dass zwei oder mehr Personen ihre materiellen Ressourcen, ihr Wissen und ihre Aktivität für einen Zweck poolen, der nicht primär in der Profiterzielung liegt (Caillé 2000). Auf diese Weise verbindet sich für ihn der Bereich der Zivilgesellschaft mit der Möglichkeit, Formen der primären Sozialität der Gabe in den öffentlichen Raum zu überführen.
Die Idee des Wachstums und materiellen Wohlstands ist für Caillé (2011b: 34f.), und damit kommen wir zur Debatte um den Konvivialismus zurück, eine Projektionsfläche für alle möglichen Hoffnungen und Ängste. Hoffnungen auf Prosperität integrieren Gesellschaften, auch wenn sich diese Hoffnungen als irreführend erweisen. Was passiert, wenn hohe Wachstumsraten (zumindest in den westlichen Gesellschaften) ein für allemal der Vergangenheit angehören, wenn Arbeitslosigkeit nicht durch Wachstum minimiert werden kann, wenn die sozialen Ungleichheiten weiter steigen, wenn Arbeitseinkommen kaum zum Leben reichen3? Die Antwort kann für Caillé nur lauten, dass materieller Wohlstand und die Vorstellung vom guten Leben zu entkoppeln sind. Dem materiellen Kalkül wären der Wert der Demokratie und des konvivialen Zusammenlebens als Selbstzwecke gegenüberzustellen. Dies käme durchaus einer moralischen Revolte gleich, da es um die Entwicklung neuer Sinnbezüge geht, wie dies ja auch Viveret und Latouche hervorheben. Diese Sinnbezüge werden jedoch nicht von außen durch die Theoretiker des Konvivialismus an die Gesellschaften herangetragen; sie existieren schon allenthalben, müssen allerdings gestärkt werden.
Auf theoretischer Ebene strebt der Konvivialismus eine Synthese verschiedener einflussreicher politischer Ideologien an: eine Synthese von Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus. Praktisch wird der Konvivialismus schon in einer Vielzahl von sozialen Konstellationen gelebt: sowieso im familiären und freundschaftlichen Rahmen, in dem nach wie vor die Logik der Gabe und nicht die des utilitaristischen Kalküls zählt. Dann in hunderttausenden von assoziativen Projekten der Zivilgesellschaft weltweit, im freiwilligen Engagement, im Dritten Sektor, in der solidarischen Ökonomie, in Kooperativen und Genossenschaften, im moralischen Konsum, in NGOs, in peer to peer-Netzwerken, Wikipedia, sozialen Bewegungen, Fair Trade, der Commons-Bewegung und vielem mehr. Menschen interessieren sich nicht nur für sich selbst, sie sind auch an anderen interessiert, sie können sich spontan und empathisch für andere einsetzen. Und die Organisationsweise dieses Typs von Handeln par excellence ist die freie zivilgesellschaftliche Assoziation, in dem vor allem das Prinzip der Unentgeltlichkeit, des reziproken Gebens und Nehmens zum Tragen kommt (vgl. Adloff 2005). Für Caillé und andere Konvivialisten ist dies entscheidend: Man darf nicht (wie der Sozialismus) allein auf staatliche Institutionen setzen; politische Veränderungen laufen nicht nur über Parteien und Staaten. Auch der Liberalismus mit seiner Betonung von Märkten übersieht die Möglichkeiten gesellschaftlicher Selbstorganisation. Die assoziative, zivilgesellschaftliche Selbstorganisation von Menschen ist hingegen entscheidend für die Theorie und Praxis der Konvivialität. Der unentgeltliche freie Austausch unter den Menschen kann als Basis einer konvivialen sozialen Ordnung gelten, die sich abgrenzt von einer allein materiell und quantitativ-monetär definierten Version von Wohlstand und des guten Lebens.
Der Zugang zu gesellschaftlichen Veränderungen ist damit grundsätzlich pluralistisch gedacht. Es wird nicht eine einzelne soziale Trägergruppe identifiziert (eine Klasse oder eine soziale Bewegung), die die Veränderung bringen soll. Viele Wege sind zu eröffnen und zu gehen, Wege, denen gemeinsam ist, dass sie der Ökonomisierung des Lebens etwas entgegenstellen. Der Pluralismus erstreckt sich für Caillé auch auf das Verhältnis von Menschen untereinander, von Gruppen und Kulturen zueinander: Er plädiert für ein Maximum an Pluralität, das noch möglich ist, ohne den Zusammenhalt zu gefährden, und er plädiert auf ein gleiches Recht auf Verwurzelung wie auf Entwurzelung, auf das Gleichheitsrecht der Kulturen und zugleich auf ihr Recht, sich voneinander radikal zu unterscheiden. Ein relativistischer Universalismus ist mithin gefordert - ein ›Pluriversalismus‹ (Caillé 2011b: 93). Diese normative Forderung ist politisch hoch relevant: So betont Paul Gilroy (2004: xi), der den Begriff der Konvivialität im Kontext der Multikulturalismusdebatte gebraucht, dass gerade die »radikale Offenheit« des Begriffs wichtig ist, da bspw. der Begriff der (kulturel- len) Identität zu schnell zu Verdinglichungen und Essentia- lisierungen von abgegrenzten Gruppen führe.
Für Caillés Entwurf eines konvivialistischen Manifests ergeben sich aus diesen Argumenten drei Forderungen: 1. Es ist im Namen einer gemeinsamen Menschheit und Sozialität ein Kampf gegen die Maßlosigkeit zu führen, konkret: gegen extreme Armut und extremen Reichtum. Ein bedingungsloses existenzsicherndes Grundeinkommen sowie die maximale Begrenzung von Einkommen sind daher einzuführen. 2. Zwischen den Nationen sollte ein Maximum an Pluralismus und Gleichheit bestehen. Momentan tritt der Westen nicht nur als ein kultureller Hegemon in Erscheinung, er versteht sich auch in den Entwicklungsbeziehungen als derjenige, der den anderen etwas gibt (Entwicklung, Geld, Technik, Waffen, Bildung, Demokratie, Literatur etc.). Wechselseitige Anerkennung kann es jedoch nur geben, wenn niemand sich zum alleinigen Geber aufschwingt, sondern sich die Positionen des Gebens und Nehmens gegenseitig abwechseln.) Konvivialität braucht die Autonomie der Gesellschaft, die sich durch zivilgesellschaftliche Assoziationen realisiert.
Das Manifest kann also insgesamt als Aufforderung verstanden werden, sich an der Suche nach »realen Utopien« (vgl. Wright 2012) zu beteiligen, die reformistisch und zugleich radikal dazu beitragen können, Utilitarismus und maßloses Wachstum zu überwinden. Auf den letzten Seiten des Manifests wird ein konvivialistischer New Deal gefordert. Ein solcher kann und darf jedoch nicht primär ein sozialplanerisches und expertokratisches Projekt sein. Alle sind aufgerufen, sich kreativ zu beteiligen, ihre Empörung einzubringen und diejenigen zu beschämen, die die Möglichkeit eines konvivialen Zusammenlebens aufs Spiel setzen. Zugegeben: Das klingt sehr naiv, doch darin liegt - so hat es die italienische Philosophin Elena Pulcini pointiert - die besondere Radikalität und Stärke des konvivialistischen Projekts.
Literatur
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Fußnoten
1 Mit »décroissance« wurde zuerst eine Aufsatzsammlung von Nicholas Georgescu - Roegen (1979) zu Entropie, Wirtschaft und Ökologie im Französischen betitelt.
2 In einem älteren Text führt Caillé (1994) die Missverständnisse, die in der Interpretation der Mauss'schen Gabentheorie entstanden sind, darauf zurück, dass handlungstheoretisch oft nicht sauber zwischen einem utilitaristischen »Interesse an« und einem spielerischen »Interesse für« unterschieden wurde, wodurch man dann vorschnell auf die (egoistische) Nutzenorientierung der am Gabentausch Beteiligten schloss. In gleicher Weise wird dann bei der Analyse des Gabentausches oft die moralische Pflicht (à la Kant), etwas zu tun (beispielsweise etwas zurückzugeben), betont, ohne zu sehen, dass dieser Pflicht auch ein Aspekt der Freiwilligkeit und Spontaneität zugeordnet ist. Bedeutende Interpreten Mauss' wie Claude Lévi - Strauss und Pierre Bourdieu haben diese Vieldimensionalität der Gabe übersehen. Sie wird auch in den Ansätzen systematisch ignoriert, die - entsprechend der vorherrschenden Dichotomie im Bereich der Sozialtheorie - aufeinander bezogenes und reziprokes Handeln entweder auf instrumentelle Rationalität (vgl. Blau 1964; Coleman 1991) zurückführen oder als Befolgung von normativen Regeln (vgl. Gouldner 1984) verstehen. Genau diese Blindstelle erfordert dann auch - so Caillé - die Entwicklung eines dritten Paradigmas (vgl. auch Adloff/Mau 2006).
3 Einige Fakten vermögen das eigentlich schon hinlänglich bekannte Problem zu verdeutlichen: Soziale Ungleichheit hat seit den 1980er Jahren in den westlichen Gesellschaften massiv zugenommen, und dies sowohl in Zeiten der Rezession als auch des Booms; auch Beschäftigungswachstum hat daran nichts geändert (vgl. Mau 2012: 52). In Deutschland gibt es seitdem mehr Ungleichheit trotz Wachstum. Die Einkommen konzentrieren sich zunehmend im Top-Segment der Verdiener, besonders augenfällig natürlich in der amerikanischen Gesellschaft. Ein amerikanischer Haushalt kommt im Durchschnitt (Median) auf ein Jahreseinkommen von 50.000 Dollar. Einige Hedgefonds-Manager bringen es mittlerweile auf Jahreseinkommen im Milliardenbereich (FAZ vom 06.05.2014): David Tepper, der den Hedgefonds Appaloosa Management gründete und führt, verdiente im Jahr 2013 3,5 Milliarden Dollar und kommt damit auf rund 10 Millionen Dollar am Tag! Insgesamt verdienten die 25 erfolgreichsten Hedgefonds-Manager mehr als 21 Milliarden Dollar - das entspricht in etwa dem BIP von Zypern oder von Honduras im Jahr 2013.
4 Caillé (2011c) betont, dass das Prinzip der freiwilligen Assoziation auf intrinsische Motivationen angewiesen ist. Werden quantifizierende Messinstrumente und monetäre Anreize eingeführt, kann dies zur Aushöhlung der intrinsischen Motive führen. Deshalb steht er auch Verfahren, das BIP definitorisch auszuweiten und alle Formen von Arbeit, also auch unentgeltliche, in einem neuen Indikator aufzunehmen, skeptisch gegenüber. Den sozialen Wert von Aktivitäten zu messen, kann also dazu führen, diesen Wert zu unterminieren. Denn unentgeltliche Aktivitäten haben keinen Preis, und sie wollen auch keinen haben.