Was könnte Konvivialismus sein?
(Einleitung des Debattenbandes)
Frank Adloff, Volker M. Heins
Wer eine literarische Beschreibung dessen sucht, was Konvivialität sein könnte, findet sie in Stefan Zweigs Schilderungen der »individuellen Freiheit« und der »wunderbar weisen Unbekümmertheit« des Alltagslebens in Paris vor dem Ersten Weltkrieg: »Es gab keinen Zwang, man konnte sprechen, denken, lachen, schimpfen, wie man wollte, jeder lebte, wie es ihm gefiel, gesellig oder allein, verschwenderisch oder sparsam, luxuriös oder bohèmehaft, es war für jede Sonderheit Raum und gesorgt für alle Möglichkeiten. […] Paris kannte nur ein Nebeneinander der Gegensätze, kein Oben und Unten« (Zweig 1970: 153, 155). Das Leben mag sich geändert haben, aber das Wort convivialité ist heute im Französischen durchaus gebräuchlich und hat sich auch im Englischen als gängiges Fremdwort sowie neuerdings auch als Fachbegriff in Diskussionen über das Zusammenleben in Einwanderungsgesellschaften etabliert.1 Die Wortschöpfung geht zurück auf den Politiker und Gastronom Jean Anthelme Brillat-Savarin und sein Buch »Physiologie du goût« (1825). Brillat-Savarin, der heute als ein früher Ernährungsexperte und eindringlicher Warner vor den Gefahren der Fettleibigkeit gilt, verstand unter Konvivialität die Situation, die sich oft bei Tisch ergibt, wenn unterschiedliche Leute über einer guten langen Mahlzeit einander näher kommen und in angeregten Gesprächen die Zeit verfliegt. Dieser gemeinsame Bezug auf Dinge und Werkzeuge, der das Verhältnis der Menschen zueinander verwandelt und befördert, liegt auch Ivan Illichs »Tools for Conviviality« (1973) zugrunde, einem Klassiker der Sozialkritik und der politischen Ökologie. Ausgehend von Illich hat der Begriff der Konvivialität später Eingang gefunden in andere Debatten, etwa in die britische Diskussion um den Multikulturalismus (vgl. Gilroy 2004).
Das konvivialistische Manifest einer Gruppe von französischsprachigen Intellektuellen um den Soziologen Alain Caillé geht über die bisherigen Verwendungsweisen hinaus, indem es aus der Konvivialität einen »Ismus« macht. Aus einem Attribut sozialer Beziehungen, das am Beispiel munterer Tischgesellschaften - einer säkularisierten Version des Urbilds vom christlichen Abendmahl - gewonnen wurde, wird etwas Neues: eine moralische Überzeugung, eine transformatorische »Kunst des Zusammenlebens« und eine »Minimaldoktrin« (S.47), die in Konkurrenz tritt zu den großen politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts.2
Während der Begriff der Konvivialität eine Praxis des Zusammenlebens bezeichnet, die offenkundig wertgeschätzt wird, macht der »Ismus« deutlich, dass es auf einer theoretischen Ebene um die Systematisierung einer sozial- und politiktheoretischen Perspektive gehen muss (vgl. auch die ähnlich gelagerte Differenz zwischen den Begriffen »liberal« und »Liberalismus«). Die Nähe zum Begriff der Zivilgesellschaft liegt dabei auf der Hand: Dieser beschreibt ja nicht nur eine Praxis der freiwilligen Assoziation, sondern zeichnet diese auch mit dem Attribut der Zivilität normativ aus und verweist darüber hinaus auf ein utopisches Projekt der Selbstregierung (vgl. Adloff 2005). Der Fokus ist somit ein doppelter: Wir können uns mit dem Konvivialismus als sozialwissenschaftlicher oder politischer Idee einerseits und mit der Konvivialität als gelebter Praxis andererseits befassen, wobei sich die wichtige Frage stellt, wie beide Ebenen miteinander zusammenhängen.
Die starke Resonanz des Manifests, das inzwischen von einer Vielzahl von prominenten Intellektuellen unterzeichnet worden ist (unter anderen von Jeffrey Alexander, Luc Boltanski, Axel Honneth, Eva Illouz, Hans Joas und Chantal Mouffe), greift diese Doppelperspektive auf und hat den Konvivialismus endgültig zu einem publikumswirksamen Slogan gemacht. Hinzu kommt, und dies ist für die Frage nach der politischen Wirkung des Texts besonders relevant, dass das Manifest auch von vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Initiativen in Frankreich diskutiert und unterzeichnet wurde. 3
Das Ziel einer Beschäftigung mit Konvivialismus als einer Idee einerseits und einer praktischen Bewegung andererseits könnte gerade in der Identifikation von übergeordneten gesellschaftlichen Problemen und neuen Leitideen des Wandels bestehen. Schließlich müsste es im Sinne des Manifests darauf ankommen, Wissenschaft, praktische konviviale Experimente und zivilgesellschaftliche Akteure miteinander zu vernetzen. Denn nur eine Forschung mit (statt über) konvivialen Initiativen kann zu neuen relevanten Einsichten und Entwicklungschancen beitragen. Damit steht nicht nur die Frage nach dem Praktischwerden von Wissenschaft im Raum, sondern auch die sozial- und politiktheoretische Reflexion auf Bedingungen und Möglichkeiten von Konvivialität, und somit auch die Frage nach dem Verhältnis von empirischen Sozialwissenschaften und normativen Debatten (die klassische Problemlage der kritischen Theorie wird hier nicht zufällig implizit aufgerufen).
Das Ziel der Konvivialisten ist eine Gesellschaft, in der Individuen, Gruppen und Gemeinwesen auf neue Art und Weise miteinander verbunden sind, einander in ihrer Unterschiedlichkeit achten und dabei zum Wohle aller kooperieren. Konvivialität ist mehr als das, was Hobbes als »complaisance« bezeichnet hat, das heißt die Bereitschaft zum mechanischen »Entgegenkommen« und zur wechselseigen Anpassung aneinander (Hobbes 1996: 127). Vielmehr glauben die Konvivialisten an moralischen Forschritt, verstanden als umfassende, nicht nur quantitative Verbesserung der materiellen Lebensverhältnisse bei gleichzeitiger Verfeinerung der Umgangsformen. Moralischer Fortschritt ist möglich, weil sich die Einzelnen im Medium von Kooperation und wechselseitiger Sympathie gemeinsam entwickeln und außerhalb eines solchen Zusammenhangs gar nicht gedacht werden könnten. Das Manifest spricht in diesem Zusammenhang von der Existenz einer geteilten Form des Anstands (»common decency«, S.66). Dieser Ausdruck George Orwells, den der politische Philosoph Jean-Claude Michéa (2014 [2007]) erneut in die Debatte eingeführt hat, verweist auf die Vorstellung, dass Menschen nicht primär rationale Egoisten sind, sondern eine psychologische und kulturelle Disposition zu Großzügigkeit und Solidarität zeigen, auf der die normativen Strukturen von Politik und Gesellschaft gründen können.
Während diese Ideen alles andere als Aufsehen erregend oder skandalös sind, dürften zwei Faktoren die Debatte befeuern.
Erstens der zusammengesetzte und vieldeutige Charakters des Manifests, dem man ansieht, dass viele Köchinnen und Köche ihre geistigen Zutaten beigesteuert haben. So signalisiert das Manifest zum Beispiel eine gewisse EU-Skepsis, wenn es die ökonomische und monetäre Integration als »unbedacht« kritisiert und vage für eine Politik der »Reterritorialisierung« eintritt (S.73,76f.). Diese Skepsis gegenüber dem bürokratischen Kontinentalismus und den Großmachtphantasien, die das EU-Projekt antreiben, speist sich aus einer Wertschätzung jener mediterranen Kultur der Einfachheit, des Maßes und der regionalen Verbundenheit, die die Literaturkritikerin Iris Radisch (2013) jüngst im Werk und Leben von Albert Camus freigelegt hat. Schon Camus stellt der Besinnung auf den Wert des Maßes die potenzielle Selbstvernichtung der Menschheit gegenüber – ein Topos, der auch das sozialökologische Denken seit seinen Anfängen begleitet, sei es mit Blick auf eine mögliche atomare Selbstvernichtung, sei es aktuell angesichts der globalen Erderwärmung. Doch kann das Maß für Camus nicht einfach reaktiviert werden, es ist nicht nur eine bürgerliche Tugend, es muss erkämpft werden: »Das Maß ist nicht das Gegenteil der Revolte. Die Revolte ist das Maß, sie befiehlt es, verteidigt es und erschafft es neu durch die Geschichte und ihre Wirren hindurch« (Camus 2003: 339). Die Denkfiguren und Narrative dieser pensée méditerranée haben freilich, wie der englische Kritiker Malcolm Bull (2014) mit Hinweisen auf Ezra Pound und andere Figuren aus dem Umkreis des italienischen Faschismus gezeigt hat, ihrerseits eine zwiespältige Geschichte. Das »mediterrane« oder »lateinische« Denken wurden nicht nur, wie bei Camus, gegen das barbarische und maßlose Deutschland der Vergangenheit mobilisiert, sondern auch gegen die Juden, Amerika und den Westen. Neuerdings hat Giorgio Agamben dieses Vokabular ein weiteres Mal gegen Deutschland aufgerufen (vgl. Assheuer 2013). Das Manifest ist, so kann man es zugespitzt formulieren, politisch polymorph.
Dafür spricht auch, dass man aus dem Konvivialismus einen versteckten Imperativ herauslesen könnte, sich nicht von der Gesellschaft abzuwenden oder sich aus ihr zurückzuziehen. In diesem Sinne hat Maximilian Steinbeis (2014) das französische Burkaverbot als eine illiberale »Verpflichtung zur Geselligkeit« kritisiert. Einer solchen Verpflichtung widerspricht freilich die Aussage, der Konvivialismus sei ein »Pluriversalismus« und überwinde die homogene Nationalgesellschaft zugunsten einer Politik der Entfaltung von »Vielfalt« (S.42,58). Hier liegt denn auch die Differenz zu einer - manchen noch wohlvertrauten - Debatte um die Frage, wie viel Gemeinschaft moderne Gesellschaften benötigen: die sog. Kommunitarismusdebatte der 1990er Jahre, die ihren Ausgang in den USA nahm (vgl. Honneth 1993). Dort wurde genauso wie im Manifest der neoliberale Ellenbogenkapitalismus kritisiert, doch bestand das Gegenrezept hauptsächlich darin, Gemeinschaftsbildungen fördern zu wollen, um Desintegration, Hyper-Individualisierung und Entsolidarisierung Einhalt zu gebieten. Das Manifest geht über diesen Zugang hinaus: Es bezweifelt nicht, dass Menschen Gemeinschaftsbezüge brauchen und diese auch immer wieder herstellen, doch fragt es nicht primär danach, was im Innern von Gemeinschaften passiert (oder passieren sollte), sondern wie unterschiedliche Gemeinschaften wechselseitig zueinander stehen können oder sollen. Also nicht Verhältnisse von Vertrautheit, sondern der Umgang unter Fremden wird zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht: Wie zusammenleben, ohne sich gegenseitig zu schaden? Der Pluralismus und Individualismus der Moderne ist dem Konvivialismus viel stärker eingeschrieben als dem Kommunitarismus. So kann zum Beispiel normativ gefragt werden, ob ein Unternehmen, eine Großstadt, eine internationale NGO oder ein Amt konvivial organisiert ist, während es wohl kaum sinnvoll wäre, die vier Beispiele nur zu ihren gemeinschaftsstiftenden Effekten zu befragen.
Zweitens versuchen die Initiatoren des Manifests, die Motive von verschiedenen Protestbewegungen und eine Vielzahl sozialer Trends in sich aufzunehmen und auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Daraus ergeben sich wichtige Fragen: Wer sind die sozialen Träger des Konvivialismus, welche Erfahrungen motivieren sie, was sind die politischen und gesellschaftlichen Ziele, die in der »Minimaldoktrin« niedergelegt sind, und welche Hindernisse stehen einer neuen Kunst des Zusammenlebens im Weg? In diesem Zusammenhang ist auch zu debattieren, welche Funktion der Begriff des Konvivialismus selbst übernehmen könnte. Um einflussreich zu werden, muss er mehr sein als nur ein moralistischer Appell und eine Chiffre für das gute Leben. Geht man davon aus, dass Begriffe wie Wachstum, Entwicklung, Leistung und Wettbewerb Leitmetaphern darstellen, die in verschiedensten sozialen Feldern (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Bildung, Lebenswelt, Medien und Kultur) zeitgenössischer Gesellschaften Resonanz finden, dann geht es um nicht weniger als die Etablierung einer neuen, alternativen Metametapher. Konvivialismus als Konzept will einen begrifflichen Rahmen all denjenigen anbieten, die mit der Idee des guten Lebens mehr und anderes verbinden als die Früchte von Siegen im Status- und Konkurrenzkampf. Zumal diese Früchte ohnehin immer höher hängen, wenn man nur daran denkt, unter welchem Druck die Mittelschichten heute bereits stehen, um von den Schichten darunter erst gar nicht zu sprechen (vgl. Mau 2012; Bude 2014). Es sei nur an die zunehmende berufliche Prekarität der Mittelschichten erinnert oder an die extreme Zuspitzung von Vermögensungleichheiten.
Konvivialismus als Leitidee des Maßes und der Selbstbeschränkung dürfte, wenn sie denn erfolgversprechend sein soll, nicht nur negativ als Verzichtszumutung verstanden werden, sondern müsste gerade als positiver Leitbegriff in den Mittelschichten und über diese hinaus Resonanz finden. Der Konvivialismus kann nur verfangen, wenn er zeigen kann, dass mit ihm gerade diese Schichten symbolisch und materiell gewinnen könnten (vgl. Caillé 2014). Deren Mitglieder müssten freilich erkennen, dass erstens die Postwachstumsgesellschaft ohnehin auf uns zukommt und es zweitens dann besser wäre, auf Egalitarismus und Gelassenheit statt auf immer schärfere Statuskämpfe zu setzen. Dafür stehen derzeit die Zeichen besser denn je. Konvivialismus ist allerdings noch weit davon entfernt, ein Denken in der klar konturierten Alternative zu fördern: Entweder Wachstum und Wettbewerb oder Konvivialität?
Das Manifest steckt voller Hinweise auf soziale Bewegungen und kulturelle Impulse unseres noch jungen Jahrhunderts. Die Bewegungen, auf die angespielt wird, streiten für die Regulierung des Finanzkapitalismus, für neue Menschenrechte des digitalen Zeitalters, für nachhaltige Landwirtschaft, religiösen Dialog, neue Ansätze der globalen Armutsbekämpfung und die Reterritorialisierung politischer Entscheidungsvollmachten. Ferner knüpft der Konvivialismus an starke Indizien an, die in den fortgeschrittenen Gesellschaften der Gegenwart auf einen moralischen Fortschritt in der alltäglichen Organisation des Zusammenlebens hindeuten. Diese Indizien zeigen sich in einer Reihe von sozialen Beziehungen: zwischen Mehrheitsgesellschaften und Minderheiten, zwischen den Geschlechtern, zwischen Eltern und Kindern und sogar zwischen Menschen und Tieren.
Nicht in allen, aber doch in einigen westlichen Nationen verzeichnen wir seit mehreren Jahrzehnten einen starken Rückgang rassistischer Einstellungen und Praktiken sowie eine entsprechende Stärkung des Bewusstseins innerhalb von ethnisch-religiösen Minderheiten und Einwanderergruppen, zur Gesellschaft dazuzugehören (vgl. Heins 2013: 20). Ebenso erleben wir einen Schwund homophober Haltungen und eine Rücknahme entsprechender Gesetze, jedenfalls in Westeuropa und Nordamerika; eine langsame, aber doch nachweisbare Unterwanderung traditionell männlicher Dominanz sowie ein verbessertes Eltern-Kind-Verhältnis, das sich unter anderem im Sinn für die Rechte von Kindern, dem Rechtsanspruch auf gewaltfreie Erziehung sowie darin zeigt, dass heranwachsende Kinder länger bei ihren Eltern wohnen bleiben möchten.
Von großer kultureller Bedeutung ist ferner die Tatsache, dass die evolutionäre Anthropologie manche Verhaltensähnlichkeiten zwischen Menschen und einigen Primaten entdeckt. Die metaphorische Ähnlichkeit mit Wölfen, Füchsen und Löwen, die die klassische politische Theorie zum Ausgangspunkt ihrer Staatskonstruktionen machte, wird abgelöst durch neue Einsichten in unsere buchstäbliche Verwandtschaft mit einigen Tieren und die Idee, dass der Mensch des Menschen Affe sein könnte.4 Menschenbilder entfalten durchaus eine performative Kraft; man kann auch zugespitzt sagen, dass Anthropologien wie selbsterfüllende Prophezeiungen wirken können, da sie ihren Gegenstand nicht einfach nur neutral beschreiben, sondern ihn geradezu hervorbringen. Deshalb ist es nicht irrelevant, dass Empathie, Kooperationsfähigkeit und Fairnesseinstellungen gerade von den Wissenschaften entdeckt werden, die noch vor wenigen Jahren den Egoismus des Menschen herausstellten (vgl.Tomasello 2014).
Dass alle diese Trends auch gegenläufige oder paradoxe Entwicklungen freisetzen, bedeutet nicht, dass sie nicht Fortschritte darstellen und ein Versprechen für die Kunst des Zusammenlebens enthalten (vgl. Hartmann/Honneth 2004). Noch wichtiger ist, dass der Konvivialismus über andere Stichworte der aktuellen Gesellschaftskritik hinausgeht. Das propagierte »con-vivere« des Manifests bedeutet nicht nur Toleranz, Kommunikation oder Anerkennung, sondern in erster Linie »Zusammenarbeit« (S.47). Das Manifest verschiebt die Aufmerksamkeit von Haltungen auf Handlungen und auf die beiden Begriffe der »Kooperation« und der »Zugehörigkeit« (S.59). Diese Begriffe bilden den Grundstock eines politischen Vokabulars, das die Artikulation der Gemeinsamkeiten einer Reihe neuerer sozialer und kultureller Entwicklungen erleichtern soll. Dabei steht Marcel Mauss (vermittelt über Alain Caillé) für die Gedankenfigur Pate, dass es Kooperation auch unter Fremden geben kann, die nur in geringem Maße über einen gemeinsamen Werte- und Normenkanon verfügen. Kooperation kann also aus sich heraus entstehen und bedarf längst nicht immer vorgängiger Gemeinsamkeiten (vgl. Adloff 2013). Mauss beschrieb zum Beispiel, wie der Austausch von Gaben zwischen Gruppen von Menschen diese zu Verbündeten macht, ohne ihre prinzipielle Agonalität, d.h. ihre kämpferische Auseinandersetzung aufzuheben. In der agonalen Gabe - also in einer Form von Praxis - erkennen sich Menschen als Menschen gegenseitig an und bestätigen sich wechselseitig ihrer Wertschätzung. Der Konvivialismus greift diesen Gedanken auf und betont, dass allein die Anerkennung einer gemeinsamen Menschheit und einer allen gemeinsamen Sozialität die Basis für ein konviviales globales Zusammenleben sein kann (S.61). Flankiert wird dies durch zwei Gegenpole: die hohe Bedeutung von Individualität und die Tatsache, dass es immer Konflikte zwischen Menschen gab und geben wird; diese gilt es nicht abzuschaffen, sondern zu beherrschen.
In der Fokussierung auf Kooperation könnte der besondere Wert des Manifests liegen, dessen Diagnosen und Forderungen für sich genommen wenig Neues bieten. Das gilt insbesondere für die Forderung nach einer kontrollierten Rücknahme des Wirtschaftswachstums im Interesse einer qualitativen Verwandlung der Lebensverhältnisse - eine Idee, die zum Beispiel bereits Herbert Marcuse in seinem 1964 erstmals erschienenen Buch »One-Dimensional Man« ausbuchstabiert hat (vgl. Marcuse 1991: 248). Auch die Formel der »gesunden Gesellschaft« (S.48), die den Auswüchsen des Neoliberalismus entgegengesetzt wird, stammt aus dem Umkreis der Frankfurter Schule und findet sich als Buchtitel in der Bibliographie von Erich Fromm (1956). Das Manifest macht sich angreifbar, wenn es sich auf Gedankenfiguren von Fromm, E.&xnbsp;F. Schumacher (»Small is Beautiful«) oder Illich, aber implizit auch auf solche von frühen »Aussteigern« wie Henry David Thoreau oder Frühsozialisten wie Robert Owen bezieht. Denn über diese naiven Weltverbesserer und Sozialromantiker lächelt die an Marx und Adorno, an Weber, Foucault und Luhmann geschulte »liberale Ironikerin« (Rorty) ja nur. Dennoch bleibt abzuwarten, ob das Aufrufen eines älteren Humanismus nur als sozialromantische Naivität verbucht werden wird, oder ob auch produktiv an solche Traditionslinien angeknüpft werden kann. 5
Nicht neu ist selbstverständlich auch der Alarmismus des Manifests, das nichts weniger als den Weltuntergang prophezeit, sollte sich das Publikum nicht rasch zum Konvivialismus bekennen (S.45,59). Wir glauben, dass der Konvivialismus auch dann ein sinnvolles Postulat ist, wenn man vom Alarmismus des Manifests Abstriche macht. Dieser Alarmismus ist nicht zuletzt deswegen fragwürdig, weil er eine einzige Quelle allen Übels beschwört, nämlich das Leitbild des homo oeconomicus, dem die Figur des Gaben tauschenden und damit konvivialen Subjekts gegenübergestellt wird. Hinzu kommt, dass das Manifest das Klischee vom aggressiven Kapitalismus der »angelsächsischen Welt« (S.54) bedient. So gesehen ist der homo oeconomicus einerseits ein Popanz, hinter dem sich eine spezifisch französische Krisenwahrnehmung versteckt. Andererseits erscheinen in letzter Zeit auch in den USA Texte von etablierten Soziologen, die fragen, ob der Kapitalismus die nächsten Jahrzehnte überleben wird. Randall Collins (2014) geht davon aus, dass der globale Norden auf massive soziale Umwälzungen zusteuert, die durch die Massenarbeitslosigkeit der Mittelschichten hervorgerufen werden. Der technische Fortschritt im Bereich der Informationstechnologien werde die Mittelschichten in den nächsten 25-40 Jahren weitgehend arbeitslos machen, was den Kapitalismus als System gefährden würde.6 Auch der britisch-amerikanische Soziologe Michael Mann (2014) betrachtet es als wahrscheinlich, dass die Eigentumsordnung des Kapitalismus die nächsten Jahrzehnte nicht überleben wird - starke Regulierungen und Verstaatlichungen sieht er als fast unausweichlich an. Krisenprognosen mehren sich also nicht nur in Frankreich: Die kapitalistische Wachstumsgesellschaft scheint diesen Beobachtern zufolge durch interne sozialökonomische Prozesse und externe ökologische Folgen in die Zange genommen zu werden.
Dennoch ein Vorbehalt: Dass individuelle Nutzenmaximierung und die Herrschaft des Marktes alle Gefahren der Gegenwart erklären sollen, ist eine wenig überzeugende These. Die schlimmsten Feinde jeder Kunst des Zusammenlebens - nehmen wir: europäische Rassisten oder die barbarischen Gotteskrieger, die im Nahen Osten Jagd auf ganze Bevölkerungsgruppen machen - sind gewiss nicht auf individuelle wirtschaftliche Nutzenmaximierung aus. Auch Kriege sind in der Regel selbst für die Sieger in wirtschaftlicher Hinsicht ein Verlustgeschäft, wie bereits der britische Journalist Norman Angell (1910) noch vor dem Ersten Weltkrieg behauptet hatte. Dehumanisierende Ideologien sind nicht einfach auf utilitaristische Kalküle oder den verallgemeinerten Warentausch zurückzuführen. Man muss die eigenständige Logik und Wirkmächtigkeit von Ideologien und Weltbildern ernst nehmen. Zwar sind utilitaristische Einstellungen und dehumanisierende Typisierungen (als Frau, Jude, Ungläubiger, Schwarze usw.) gleichermaßen Ausdruck einer Anerkennungsvergessenheit (Honneth 2005), doch kann man nur erstere in einen Zusammenhang mit dem Warentausch im Kapitalismus setzen. Es gibt verschiedene Wege, die zur Verdinglichung und Missachtung anderer Menschen führen.
Schließlich irren sich die Autoren des Manifests, wenn sie nahelegen, dass Gesellschaften in dem Maße, wie sie sich wirtschaftlich öffnen und liberalisieren, ihre Solidaritätsreserven unterminieren und nur noch selbstzentrierte Ichlinge hervorbringen. Die Debatte um bürgerschaftliches Engagement und Sozialkapital hat in den letzten Jahren wenig Anlass zum Alarm gegeben. Tatsächlich zeigt auch eine neuere Bertelsmann-Studie, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in wirtschaftsliberal geprägten angelsächsischen Ländern nicht nur sehr hoch ist, sondern auch deutlich höher ausfällt als zum Beispiel in Frankreich oder anderen Mittelmeerländern. Dies gilt für Indikatoren wie Vertrauen in die Mitmenschen, Akzeptanz von Diversität, Solidarität und Hilfsbereitschaft und andere Aspekte (vgl. Dragolov u.a. 2013: 28ff.).
Eine Hoffnung, die die Herausgeber mit dem vorliegenden Band verknüpfen, besteht darin, diese und andere Verkürzungen aufzubrechen und dem beschworenen »erweiterten Humanismus« (S.58) durch eine größere Vielstimmigkeit glaubhafter zu machen. Das 2013 in Frankreich erschienene konvivialistische Manifest ist nur der Ausgangspunkt einer Debatte, die in Deutschland anders geführt werden wird als im Nachbarland.
Konvivialismus als »neue Kunst des Zusammenlebens« will sich nicht auf einzelne Reformen in Teilbereichen der Gesellschaft beschränken - es geht um eine veränderte Gesamtperspektive, die in jedem gesellschaftlichen Bereich Geltung beanspruchen könnte. Auf die Frage, wo man denn mit Konvivialität anfangen solle, würden die Konvivialisten typischerweise antworten: Jeder und jede kann sich an jedem gesellschaftlichen Ort für mehr Konvivialität einsetzen. Dementsprechend haben wir uns darum bemüht, Autor/innen aus verschiedenen Disziplinen und mit ganz unterschiedlichen Expertisen zu gewinnen. Sie wurden von den Herausgebern gebeten, das Manifest aus ihrer Sicht zu kommentieren. Jeder Essay sollte sich mit ein paar wenigen Kernaussagen des Manifests auseinandersetzen und diese kommentieren, kritisieren, präzisieren oder mit Hinweisen auf andere Quellen oder die Empirie anreichern. Das Ziel der Beiträge und des Bandes insgesamt ist es, die Brauchbarkeit des Leitbegriffs des Konvivialismus und der Kernaussagen des Manifests aus spezifischen Blickwinkeln zu bestimmen.
Die dem Band zugrunde liegende Gliederung folgt den im Manifest angesprochenen Themen. So wird zunächst (»Demokratie, Politik und Staat«) danach gefragt, ob das Manifest tatsächlich eine neue und überzeugende politische Perspektive anbieten kann. Danach (»Zivilgesellschaft«) wird die Rolle der Zivilgesellschaft für das Projekt des Konvivialismus diskutiert. Welche Impulse vermag das Manifest zivilgesellschaftlichen Akteuren und Debatten zu geben? Natürlich muss sich das Manifest zu ökonomischen Problemstellungen verhalten. Also, wie steht es zu Konzepten von Postwachstum und gemeinwohlorientiertem Wirtschaften? Welche Rolle können ökonomische Alternativen wie Genossenschaften und Commons spielen?
Auch im Feld der Kultur stellt sich die Frage, ob sich neue Formen der Konvivialität etablieren können. Werden Religion, Leidenschaften und Kunst im Manifest angemessen und wegweisend diskutiert? Der Gliederungspunkt »Identitäten, Klassen und Sozialpolitik« versammelt Beiträge, die Trägergruppen von Konvivialität ermitteln, den Konvivialismus danach befragen, inwie- weit er den Multikulturalismus bereichern kann und welche Basis er denn eigentlich haben könnte.
Schließlich endet der Band (»Konvivialität international«) mit der Problematik, wie lokale, nationale und transnationale Fragen aus Sicht des Konvivialismus zu adressieren wären. Taugt der Konvivialismus als eine internationale Perspektive?
Die versammelten Beiträge fallen in ihrer Zustimmung oder Kritik des Manifests sehr unterschiedlich aus. Mal erscheint das Manifest als zu utopisch oder realitätsblind, mal als nicht radikal genug. Eine Distanz zum Manifest ist in den Essays rundweg spürbar, doch was diesen Debattenband aus Sicht der Herausgeber charakterisiert und heraushebt, ist die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung mit den Vorschlägen des Manifests. Auch die überaus kritischen Beiträge des vorliegenden Bandes akzeptieren die These des Manifests, dass neue Formen und Regeln des Zusammenlebens erfunden und ausprobiert werden müssen. Diese Gemeinsamkeit ist vielleicht schon mehr als man normalerweise von solch einem breiten Spektrum an Beiträgen und Autor/in- nen erwarten kann. So stimmt der Band die Herausgeber zuversichtlich, dass die Leitidee der Konvivialität weiterhin zum Denken und Handeln anregt. Als die Herausgeber die Idee diskutierten, einen Debattenband zum Konvivialismus herauszugeben, bekamen wir von Anfang an ein positives Feedback und große Unterstützung vom transcript Verlag, der ja auch schon das konvivialistische Manifest mit viel Engagement verlegt hat. Karin Werner und ihrem Team sei hierfür herzlich gedankt. Unterstützung erfuhren wir ebenfalls vom Käte Hamburger Kolleg/Centre for Global Cooperation Research, Duisburg. Dem Kolleg und insbesondere Christine Unrau sei hierfür gedankt ebenso wie Claudia Figalist und Minh Nguyet Pham (beide vom Institut für Soziologie, Erlangen), die uns besonders tatkräftig und zuverlässig zur Seite standen und das Korrekturlesen und Vorformatieren der Texte übernommen haben.
Literatur
Adloff, Frank (2005): Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis. Frankfurt a.M./New York: Campus.
Adloff, Frank (2013): »Mauss’sche Gaben – Eine Kooperation sui generis?«, in: Journal für Religionsphilosophie 2, Heft 2, S.85-97.
Angell, Norman (1910): The Great Illusion: A Study of the Relation of Military Power in Nations to their Economic and Social Advantage. New York: G.P. Putnam’s & Sons.
Assheuer, Thomas (2013): »Gegen Deutschland? Frankreich diskutiert ein Pamphlet des Philosophen Giorgio Agamben: Der Süden soll sich unter der Führung Frankreichs zur Wehr setzen«, in: Die Zeit, 11. April.
Bude, Heinz (2014): Gesellschaft der Angst. Hamburg: Hamburger Edition.
Bull, Malcolm (2014): »Pure Mediterranean«, in: London Review of Books, 20. Februar, S.21-23.
Caillé, Alain (2014): »Résponse à Christian Lazzeri«, in: Revue du MAUSS Semestrielle, Nr. 43, 233-235.
Camus, Albert (2003 [1951]): Der Mensch in der Revolte. Essays. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Collins, Randall (2013): »Das Ende der Mittelschichtarbeit: Keine weiteren Auswege «, in: Immanuel Wallerstein/Randall Collins/Michael Mann/Georgi Derluguian/Craig Calhoun: Stirbt der Kapitalismus? Fünf Szenarien für das 21. Jahrhundert. Frankfurt a.M./New York: Campus, S.49-88.
Dragolov, Georgi/Ignàcz, Zsófia/Lorenz, Jan/Delhey, Jan/Boehnke, Klaus (2013): Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt. Gesellschaftlicher Zusammenhalt im internationalen Vergleich. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung; www.gesellschaftlicher-zusammenhalt.de
Frey, Carl Benedikt/Osborne, Michael A. (2013): The Future of Employment: How Susceptible are Jobs to Computerisation? Oxford University, Oxford Martin School Working Paper; www.futuretech.ox.ac.uk/publications
Fromm, Erich (1956): The Sane Society. London: Routledge & Kegan Paul.
Gilroy, Paul (2004): After Empire. Melancholia or Convivial Culture? Abington, UK/New York: Routledge.
Hartmann, Martin/Honneth, Axel (2004): »Paradoxien des Kapitalismus«, in: Berliner Debatte Initial, Jg. 15, Heft 1, S.4-17.
Heins, Volker M. (2013): Der Skandal der Vielfalt. Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus. Frankfurt a.M./New York: Campus.
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Honneth, Axel (Hg.) (1993): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt a.M./New York: Campus.
Honneth, Axel (2005): Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Marcuse, Herbert (1991 [1964]): One-Dimensional Man. Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society. Boston: Beacon Press.
Mau, Steffen (2012): Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht? Berlin: Suhrkamp.
Michéa, Jean-Claude (2014): Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz.
Radisch, Iris (2013): Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
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Zweig, Stefan (1970 [1942]): Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt a.M.: Fischer.
Einblicke in die Debatte
Von der Strukturanalyse zur Morallehre und zurück
Für eine neue Ökonomie des Zusammenlebens
Stephan Lessenich
Zugegeben: Das Gefühl des Vorbehalts war ganz spontan, ohne weitere oder gar nähere Kenntnis des Sachverhalts. »Das konvivialistische Manifest«: Schon wieder ein Manifest? Neuerdings befindet man sich ja als Autor oder Distributor von Manifesten in nicht allzu guter Gesellschaft. Und dabei rede ich weder von »Manifesto«, dem Duft-»Manifest der Weiblichkeit« von Yves Saint Laurent, noch gar vom »Manifest für eine europäische Wiedergeburt« der französischen Neuen Rechten um Alain de Benoist. Eher schon kommt einem das leicht krude »Beschleunigungsmanifest« für eine antikapitalistisch-akzelerationistische Politik in den Sinn oder aber das unsägliche »Konsumistische Manifest« des selbsternannten Kommunikationstheoretikers Norbert Bolz, der das konsumfeindliche Gotteskriegertum mithilfe der kapitalistischen Konsummaschinerie besiegen will und dafür ganz unverfroren an den Titel von Marx/Engels’ Hauptwerk und Megaseller der modernen Manifestgeschichte anschließt. Jetzt also das dieselbe metaphorische Konnotation nutzende Manifest des Konvivialismus. Nun ja, sei’s drum.
Obwohl: Irgendwie doch auch nicht. Das kommunistische Manifest bestach ja einerseits durch seine analytisch brillante, im Grunde jedermann verständliche Zeitdiagnose: Alles Ständische und Stehende verdampft, der Arbeiter als bloßes Zubehör der Maschine, die Bourgeoisie als ihr eigener Totengräber. Marx und Engels boten auf engstem Raum eine veritable Strukturanalyse der modernen Industriegesellschaft. Und ihr Text zeichnete sich durch eine aus dieser Strukturanalyse logisch folgende, in der Klarheit ihrer Adressierung und Orientierung kaum zu überbietende politische Perspektive aus: Proletarier aller Länder, vereinigt Euch! Was auch immer man, zumal im Lichte der nachfolgenden anderthalb Jahrhunderte partei- und staatssozialistischer Struktur- und Ereignisgeschichte, von diesem Aufruf heute halten mag: Wenn schon Manifest, dann schon so, also richtig.
Man muss es so deutlich sagen: Sowohl gegenüber der gesellschaftlichen Strukturanalyse wie auch hinsichtlich der politischen Mobilisierungsqualität des Kommunistischen verblasst das konvivialistische Manifest doch ganz erheblich. Ja, es verfehlt dessen Anliegen und Impetus fast ums Ganze. Das liegt nicht nur an der durchweg etwas opaken und wolkigen Sprache - jener Sprache gegenwärtiger französischer Sozialwissenschaft, deren jüngere Beiträge im Allgemeinen und auf Anhieb so ungemein anregend sind, im Detail und bei genauerer Lektüre jedoch auf so eigentümliche Weise im Unbestimmten, Ungefähren bleiben. Und nicht zuletzt deshalb vielleicht auch so ungefährlich.
Doch nicht nur sprachlich, auch inhaltlich ist die Strukturanalyse des konvivialistischen Manifests in ihrem Kern eigentümlich vage: Irgendwie sind Menschheit und Sozialität bedroht, und auf irgendeine Weise hat das mit den herrschenden ökonomischen Vorstellungen und der Kultur bzw. Unkultur des Wachstums zu tun. Als nicht weniger unterbestimmt erweist sich dann aber auch der gesellschaftspolitische Gegenentwurf: Es geht um neue Formen des gütlichen Zusammenlebens, die interindividuelle Kooperation trotz sozialer Rivalität erlauben und durch eine von wem auch immer getragene moralische Fortschrittsbewegung herbeigeführt werden sollen. Nur eines scheint klar: Den »gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung« à la Marx/Engels streben Caillé et al. nicht an. Der Konvivialismus soll friedlich- friedvoll über uns kommen.
Womit zugleich auch der Untertitel des Manifests angesprochen wäre. Auch dieser lässt den mit Umstürzen der Gesellschaftsordnung, zumal den gewaltfreien unter ihnen, grundsätzlich sympathisierenden Leser ebenfalls spontan stutzen. »Für eine neue Kunst des Zusammenlebens«: Das klingt äs- thetisierend und irgendwie bohémien. Und ist zwar wohl nicht so gemeint, aber vermutlich doch im übertragenen Sinne eines kollektiv-individuellen Anforderungsprofils an die vereinten Zusammenlebenskünstler aller Länder: Empört Euch über die gegenwärtige Lebensweise und verhaltet Euch gemeinsam anders. Weniger gesellschaftliche Strukturumbrüche sind hier gefragt als vielmehr veränderte Formen der Lebensführung - dabei ist das eine nicht ohne das andere zu denken, sind die Formen des sozialen Zusammenlebens doch auf das Engste mit den Funktionen gesellschaftlicher Strukturbildungen verknüpft.
Dass das Manifest mehr als Morallehre denn als Strukturanalyse daherkommt, stellt sein zentrales Problem und seine entscheidende Schwäche dar. Wie man es auch drehen und wenden mag: Wer von der »Mutter aller Bedrohungen« (S.45) spricht, darf vom Kapitalismus nicht schweigen, kommt um eine Analyse des Gegenwartskapitalismus schlechterdings nicht herum. Wer soziale Kooperationsbeziehungen zum Dreh- und Angelpunkt einer anderen Gesellschaft bzw. einer gesellschaftlichen Transformation erhebt, muss das ubiquitäre flexibel-kapitalistische Wettbewerbsregime in den Blick nehmen, die institutionelle Aushöhlung des regulierten Kapitalismus der Nachkriegszeit, den politischen Durchgriff auf die Subjekte in selbstökonomisierender und selbstrationalisierender Absicht.
Wer als »Kunst des Zusammenlebens« einen Vergesellschaftungsmodus positiver sozialer Relationierung imaginiert, der »die Zusammenarbeit würdigt und es ermöglicht, einander zu widersprechen, ohne einander niederzumetzeln, und gleichzeitig für einander und für die Natur Sorge zu tragen« (S.47), der muss auch sagen, was realiter der Fall ist, was einem solchen »con-vivere« (ebd.) strukturell entgegensteht: Nämlich das »con-tendere«, das agonale miteinander Wetteifern der durch die systemischen Zwänge kapitalistischer Akkumulation in eine individuell unhintergehbare Struktur von Wettkämpfen und Bewährungsproben gesetzten Marktakteure. Eine Struktur, die systematisch Gewinner und Verlierer erzeugt - übrigens in der Regel ganz ohne das unangenehme Beiwerk physischen Niedermetzelns. Die »offene Gesellschaft« der Marktökonomie exkludiert viel reibungsloser, lautloser, subtiler. Und schafft es dennoch recht effektiv, soziale Existenzen zu ruinieren und die sogenannten »natürlichen« Grundlagen ihrer Produktionsweise zu zerstören.
Politökonomische Fragen, die sich beim Lesen des konvivialistischen Manifests geradezu aufdrängen, lässt dieses leider durchweg unbeantwortet - oder mehr noch, sie bleiben ungestellt. Wo kommt denn das »Streben nach unendlichem ökonomischem Wachstum« (S.51), das als das Kardinalproblem der Gegenwartsgesellschaft ausgemacht wird, wohl her? Ist es ein Charakterzug des modernen Menschen? Eine psycho-materiale Deformation der Wohlstandsgesellschaft? Oder ein systemisches Problem der kapitalistischen Institutionenordnung, die sich, wie Max Weber wusste, die Subjekte schafft, derer sie bedarf? Wie kommt »das Postulat des absoluten Vorrangs der ökonomischen Probleme vor allen anderen« (S.52) in die soziale Welt? Durch Zufall (wohl kaum), ideologische Verblendung (letztlich nur bedingt), demokratische Wahlen (zumindest mittelbar leider Gottes schon), die Funktionsnotwendigkeit der immer wieder erneuten Produktion und Realisierung von Mehrwert (so jedenfalls die Annahme des »anderen« Manifests)? Warum also die »Unterordnung aller menschlichen Tätigkeiten unter eine kommerzielle oder quasikommerzielle Norm« (S.53)? Man wird ja wohl noch fragen dürfen.
Der Kapitalismus und dessen Kritik tauchen im Manifest für eine konvivialistische Kultur des Zusammenlebens nur in Gestalt des »spekulativen Finanzkapitalismus« (S.42) bzw. der »spekulativen Auswüchse der Finanzwirtschaft« (S.69) auf - so als ob er in seinen historisch vorgängigen bzw. parallel ja weiter operierenden Varianten des »produktiven« Industrie- oder aber auch des »kreativen« Wissenskapitalismus nicht ebenso problematisch wäre. Zumindest implizit schließt sich das Manifest der mittlerweile fest etablierten Volksweisheit vom »bösen« Finanz- und »guten« Realkapital an, als hätten Ausbeutung und Entfremdung, die private Aneignung der Erträge gesellschaftlicher Arbeit und der strukturelle Zusammenhang von Armut und Reichtum erst mit der politischen Liberalisierung der Finanzmärkte gesellschaftlich Einzug gehalten. Und wie es allseits so beliebt ist, erscheint auch hier die »Standardwirtschaftswissenschaft« (S.56) als der eigentliche Feind der Konvivialität. Nicht dass die Kritik den Falschen träfe. Aber selbst die deutungs-, diskurs- und hegemoniepolitisch so erfolgreiche neoklassische Wirtschaftswissenschaft ist am Ende des Tages ja doch »nur« die Legitimationstheorie der herrschenden Wirtschaftsweise – bzw. der in sie eingelagerten und durch sie stabilisierten gesellschaftlichen Machtverhältnisse.
Bleibt die konvivialistische Analyse der gesellschaftlichen Bedrohungen somit weitgehend an der Oberfläche, dann gilt dies für die im Manifest skizzierte gesellschaftspolitische Gegenstrategie, gewissermaßen notwendigerweise, ebenso. Oder genauer: Diese Gegenstrategie reflektiert letztlich nicht die gesellschaftlichen Bedingungen der anvisierten neuen Form von Gesellschaftlichkeit. Nichts gegen »Fürsorglichkeit« und »Gabe« (S.57) als zentrale Gestaltungselemente einer anderen Form des Zusammenlebens - ganz im Gegenteil. Aber wie stellen sich die Konvivialisten unter den strukturellen Bedingungen der Gegenwartsgesellschaft deren soziale Herrschaft jenseits von nicht-kapitalistischen Nischen vor? Was »legitime Staaten« (S.65) ihren Bürgern, ginge es nach den Konvivialisten, garantieren sollen, liest sich wie ein wunderschöner politischer Moralkatalog - aber wer soll staatliche Politik dazu bringen oder gar zwingen, den Legitimitätskriterien des Konvivialismus zu gehorchen, seinem normativen Narrativ zu folgen?
Was das konvivialistische Manifest als Zukunftsvision zeichnet, ist das ebenso harmonistische wie unrealistische, weil die strukturellen Widersprüche und funktionalen Antagonismen unterschiedlicher gesellschaftlicher Steuerungsmodi ausblendende, Idealbild einer mixed economy of welfare: Es geht den Manifestierenden um »das rechte Gleichgewicht zwischen privaten, gemeinsamen, kollektiven und öffentlichen Gütern und Interessen« (S.66). Nun gut: Wer würde nicht in der besten aller Welten leben wollen, in der man sich von allen Dingen, die ja für gewöhnlich immer zwei Seiten haben, immer nur die mit der Schokolade aussuchen könnte - ohne sich die jeweils dunkle, bittere Seite der jeweiligen Steuerungsmacht mit einzukaufen.
Nicht nur die politökonomische Logik, auch alle historische Erfahrung lehrt, dass der perfekte, komplementäre Steuerungsmix von Markt, Haushalt, Gemeinschaft und Staat eine sozialtechnologische Wunschvorstellung ist. Jedenfalls auf dieser Ebene ist die Kunst des Zusammenlebens eine Illusion: Wer dem Markt systematisch verwertbaren Wert - sagen wir: Arbeitskraft als potenziell mehrwertproduzierende Lohnarbeit - auf dem Wege von dessen bzw. deren Vergesellschaftung in Privathaushalten, Solidargemeinschaften oder öffentlichen Institutionen zu entziehen trachtet, der hat mit der massiven Gegenreaktion »des Kapitals« zu rechnen. So in den letzten anderthalb Jahrhunderten und bis auf den heutigen Tag ungezählte Male in unendlich vielen Varianten geschehen. Und so lange die Kapitallogik nicht systematisch und nachhaltig gebrochen wird, wird sich an dieser dialektischen Dynamik auch nichts Substanzielles ändern, konvivialistische Moral hin oder her.
Zu diesen Widersprüchen der konvivialistischen Agenda passt, dass der konviviale Universalismus sogleich wieder kommunitaristisch eingeholt wird: »Gewiss kann es Konvivialismus nur in der Öffnung zu anderen geben, aber es bedarf auch einer hinreichend stabilen inneren Zusammengehörigkeit, damit er Quelle von Vertrauen und Wärme sein kann.« (S.75) Schon bei der Rede von gemeinschaftlicher Wärme kann es jedem Außenstehenden durchaus frösteln. Die Semantik eines »reterritorialisierten« und »relokalisierten« (vgl. ebd.) Universalismus steht aber für ein noch viel größeres Manko des konvivialistischen Entwurfs, für sein wohl größtes Funktions- und Legitimationsproblem: In ihm spiegelt sich die Lebenswelt der relativ gesicherten Sozialmilieus im globalen Norden. Diese soziale Standortgebundenheit ihrer gesellschaftspolitischen Positionierung aber wurde in der »Reihe von Diskussionen« (S.36), die - so das Vorwort des Manifests - über anderthalb Jahre hinweg »in einer Gruppe von etwa vierzig frankophonen Autoren« (ebd.) geführt wurden, offenbar nicht thematisiert.
Jedenfalls wird sie im Rahmen des veröffentlichten Textes nicht reflektiert. Dass aber »die auf uns einstürmenden Gefahren aller Art« (S.44) zu einem großen Teil »noch nicht für uns alle unmittelbar offenkundig« (ebd.) seien, kann man nur als Intellektueller aus der OECD-Welt für eine »Tatsache« (ebd.) halten. Sicher, in Frankreich und zumal in Deutschland, wo weder die Folgen der Finanzmarktkrise noch die Effekte der globalen Umweltkrisen für die allermeisten Menschen unmittelbar lebensweltlich relevant werden, mag man glauben, dass die Dinge so dramatisch nicht oder aber wenigstens noch nicht seien. In vielen Regionen des globalen Südens aber und für die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung sind die im Manifest beschworenen Gefahren durchaus schon ganz reale, alltägliche Lebensbedingungen. Deswegen ist politisches Engagement dort auch keineswegs »nur im Rahmen einer Zukunftsethik denkbar« (ebd.): Ganz im Gegenteil geht es jenseits unserer wohlfahrtskapitalistischen Breitengrade schlicht um existenzielle Fragen der Gegenwartsmoral, um die moralische und insbesondere die materielle Ökonomie des Überlebens. Dass das »Gefühl der extremen Dringlichkeit angesichts der möglichen Katastrophe« (S.59) in diesen Weltregionen auf ganz andere Weise gesellschaftlich präsent ist, wissen die Konvivialisten sicher. Ihre programmatische Perspektive bestimmt dieses Wissen aber definitiv nicht.
Zugegeben: All dies klingt nach keinem guten Haar, das an dem konvivialistischen Manifest zu lassen wäre. Ganz so ist es nun allerdings auch nicht. Gewiss wird man den Autoren und Autorinnen einigen gesellschaftspolitischen Kredit gewähren wollen, zumal sie einleitend auch selbst einräumen, dass man sich hier auf »den größten gemeinsamen Nenner des alternativen Denkens« (S.36) zu einigen versucht habe - auf eine Minimaldoktrin, »die von allen geteilt werden kann« (S.50). Die »Verheißungen der Gegenwart Wirklichkeit werden zu sehen« (S.40) ist, nicht nur wegen der manifesten Anklänge an die gesellschaftswissenschaftliche Programmatik der Kritischen Theorie, aller Ehren wert. Und das Ziel, »einen neuen, radikalisierten und erweiterten Humanismus zu erfinden« (S.58), klingt tatsächlich nach einer die kapitalistische Gesellschaftsformation überwindenden Utopie, nach der Organisationsform einer freien zivilgesellschaftlichen Assoziation.
Doch wie soll es dazu kommen? Durch den guten Willen und die bessere Einsicht aller? Das konvivialistische Manifest ist durchgängig im Modus des »Muss« gehalten: Es geht um all das, was anstünde und passieren müsste. Aber wie soll der Schritt von der normativen Präskription zur politischen Aktion vollzogen werden? Und wer soll aus dem Sollen das Sein hervorbringen? Liest man das Manifest, dann findet sich darin nicht viel mehr als ein Plädoyer für eine Politik der Gefühle: Es geht um die ehrliche »Entrüstung« der einen und die gebotene »Scham« der anderen, »Affekte und Leidenschaften« seien zu mobilisieren (vgl. S.72) – doch die Trägerinnen und Adressaten dieser Gefühlsbewegung bleiben im Dunkeln. Von wem soll dann aber »auf die bestehenden politischen Spiele« (S.73) Einfluss genommen werden? Und wie soll dieser politische Einfluss, so das Manifest an einer Stelle gleichsam über sich selbst hinauswachsend, konkret sogar »radikal« (ebd.) gewendet werden?
Das Kommunistische Manifest konnte dereinst aus guten Gründen radikale Kante zeigen: »Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunisti- schen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.« Das Problem ist: Für die breiten Mittelschichten des globalen Nordens trifft genau dies heute nicht mehr zu. Sicher, das ist zugleich ein erfreulicher Sachverhalt, und jedem Einzelnen der Begünstigten ist das bisschen (oder auch ein bisschen mehr) Wohlstand selbstverständlich zu gönnen. Aber für radikale, im Ergebnis revolutionäre soziale Veränderungen stellen die relativ wohlhabenden unter den Weltbürgerinnen eben doch ein, vorsichtig ausgedrückt, retardierendes Moment dar. Bei einem wirklich grundlegenden Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse - und das würde ja bedeuten müssen: der globalen gesellschaftlichen Verhältnisse - hätten sie materiell einiges zu verlieren. Es hilft nichts, diesen Sachverhalt zu ignorieren oder sich schön zu reden: Wer eine neue Form des Zusammenlebens in der Weltgesellschaft anstrebt, der wird für eine massive Umverteilung sozialer Lebenschancen eintreten müssen, für eine nationale wie transnationale Option für die Ärmeren. Damit ist aber auch klar: Diese neue Form des Zusammenlebens wird ohne schwere, ja schwerste Verteilungskonflikte nicht zu haben sein.
Es scheint nicht so, als seien die Denker des konvivialistischen Manifests auf solche Verhältnisse eingestellt - oder als wollten sie die Welt um sie herum darauf einstellen. Im Gegenteil, ihr politischer Verfahrensvorschlag für einen gesellschaftlichen Weg in die Konvivialität ist von geradezu entwaffnender Harmlosigkeit. Und er ist zugleich, auch das muss man wohl sagen, ein Ausdruck von intellektueller Selbstüberschätzung: Eben noch wird ein »neuer Progressivismus« (S.73) in Aussicht gestellt, der »frei von jedem Ökonomismus und von jedem Szientismus« (ebd.) zu sein habe - um schon im nächsten Satz das operative Heil in einem Parlament der wohlmeinenden Gebildeten zu suchen, in einer »Weltversammlung …, in der sich Vertreter der organisierten Weltzivilgesellschaft, der Philosophie, der Geistes- und Sozialwissenschaften sowie der verschiedenen ethischen, spirituellen und religiösen Strömungen zusammenfinden, die sich in den Prinzipien des Konvivialismus wiedererkennen« (S.74). Unwillkürlich hat man hier das große Rund des Galaktischen Senats aus »Star Wars« vor Augen - nicht aber eine der »Mutter aller Bedrohungen« Herr werdende politische Institutionenordnung. Soll diese im konvivialen Diskurs von Männern des Geistes und der Geistlichkeit gestiftet werden, dem weltgesellschaftlichen Fußvolk zum Wohlgefallen und zur freundlichen Beachtung?
Ich kann mir nicht helfen: Da ist mir dann doch das schlicht-direkte marx/ engels’sche »Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!« näher. Und es scheint mir sogar auch, selbst unter den gegebenen Bedingungen fortgeschrittener sozialstruktureller Differenzierung, realitätstüchtiger zu sein. Einer neuen Ökonomie des Zusammenlebens - und einer eben solchen bedürfte es - wird der alte, als hoffnungslos antiquiert geltende Kampfspruch des Kommunistischen Manifests jedenfalls eher gerecht als die Moralappelle des konvivialistischen. Marx und Engels deuteten die Geschichte ihrer Gesellschaft als eine der »Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind«. Damals wurden immerhin noch Ross und Reiter genannt - und es wurde nicht suggeriert, dass man auf eine andere Welt, auf neue Formen des Zusammenlebens, sich ohne schwerste soziale Kämpfe würde einigen können.
So viel Realitätssinn täte auch dem Manifest der Konvivialisten gut - und solcherart Politisierung ihrem gesellschaftlichen Anliegen.
Commoning
Zur Kon-struktion einer konvivialen Gesellschaft
Britta Acksel, Johannes Euler, Leslie Gauditz, Silke Helfrich, Brigitte Kratzwald, Stefan Meretz, Flavio Stein, Stefan Tuschen
Als Commoners1 begrüßen wir die Haltung der Manifestautor*innen, verschiedene Positionen und Diskurse in einem gemeinsamen Schreibprozess zusammenzuführen. Ein solcher Prozess erscheint uns als angemessener Weg, sich einer zukunftstauglichen »Kunst des Zusammenlebens« zu nähern. Der Einladung, zu den im Manifest skizzierten Ideen und Vorschlägen beizutragen, sind wir daher gerne gefolgt. Sie hat einen gemeinsamen Denk- und Schreibprozess initiiert, dessen Ergebnis wir hier zur Diskussion stellen. Ausgewählte analytische Aussagen des Manifests waren für uns Ausgangspunkte, sie um die Perspektive des Commoning zu erweitern. Dass dabei erneut Unfertiges notiert wird, liegt in der Natur der Sache. Wir begreifen auch unseren Text als Einladung, das noch Offene und Kontroverse weiterzudenken. Als Anker für eine Vertiefung des Manifests aus Commons-Perspektive bietet sich der Begriff des con-vivere an. Der Zusammenhang zwischen con-vivere und com-mons liegt auf der Hand beziehungsweise in der Vorsilbe. Wir seien »durch unsere Sprech- und Hörgewohnheiten vollkommen taub geworden […] für den guten Klang des […] ›cum‹, das im Deutschen als Vorsilbe ›kon‹ oder ›kom‹ erscheint«, bedauert Marianne Gronemeyer (o.J.), »[…] die meisten Komposita, die damit gebildet werden, haben den alten Sinn in sein krasses Gegenteil verkehrt. Die Präposition ›cum‹ die einmal ein ebenbürtiges Miteinander im gemeinsamen Tun bezeichnen konnte, dient zunehmend dazu, ein scharfes, unerbittliches Gegeneinander im Kampf um Vorteile, Macht oder Einfluss zu beschreiben. Kon-kurrenten laufen nicht mehr zusammen, sie liegen im Krieg um knappe Ressourcen, das entsprechende englische competition bezeichnet nicht mehr ein gemeinsames Streben, sondern die Anstrengung, einander auszustechen.« (Ebd.)
Ebenbürtiges Miteinander im gemeinsamen Tun – es scheint, als wolle diese Vorsilbe die Essenz des Commoning und der Commons in drei Buchstaben fassen. Tatsächlich verweisen die Begriffe Commoning und Commons auf die uns stets offen stehende Möglichkeit, Zusammenleben im Geiste des so allgegenwärtigen wie weithin zurückgedrängten cum/con zu gestalten. Sie erfassen begrifflich, was im von Frank Adloff verfassten Vorwort zur deutschen Fassung des Manifests (S.25f.) als Kern der Konvivialismus-Diskussion benannt wird: »Die assoziative, zivilgesellschaftliche Selbstorganisation von Menschen ist […] entscheidend für die Theorie und Praxis der Konvivialität. Der unentgeltliche freie Austausch unter den Menschen kann als Basis einer konvivialen sozialen Ordnung gelten, die sich abgrenzt von einer allein materiell und quantitativ-monetär definierten Version von Wohlstand und des guten Lebens«.
von commoning und commons
»Commoning« ist eine soziale Praxis, für die Commons als Struktur und Arrangement den Rahmen bieten. Letztere kann man als Grundlage einer konvivialen Gesellschaft fassen, ersteres als ihren lebendigen Ausdruck. Commons sind mithin keine Güter, wenngleich sie oft als solche beschrieben werden. Denn Güter sind nicht aufgrund ihrer »natürlichen« Eigenschaften Commons, sondern sie müssen erst dazu gemacht werden. Commons lassen sich im Wesentlichen als institutionelles, rechtliches und infrastrukturelles Arrangement für ein Miteinander - das Commoning - beschreiben, bei dem Nutzung, Erhaltung und Produktion vielgestaltiger Ressourcen gemeinsam organisiert und verantwortet werden. Die Regeln des Commoning werden (idealerweise) im gleichberechtigten Miteinander von Peers festgelegt, deren Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen. Möglichkeiten individueller Selbstentfaltung verbinden sich dabei mit der Suche nach gemeinsamen Lösungen, sinnerfüllte Tätigkeiten mit der Ausweitung und Vertiefung von Beziehungen sowie die Schaffung materieller Fülle mit der Fürsorge für andere Menschen und die Natur. Dieses Miteinander wurde und wird in unterschiedlicher Ausprägung von Gemeinschaften auf der ganzen Welt praktiziert. Dabei muss das Commoning immer wieder auf den Prüfstand gestellt, aktualisiert und (neu) eingeübt werden. Das wiederum ist alles andere als selbstverständlich und bedarf geeigneter Rahmenbedingungen, die wir gegenwärtig nur spärlich vorfinden.
Ergebnisse von Commoning können traditionell die zukunftstaugliche Nutzung natürlicher Ressourcen, wie Wald, Wasser oder Boden sein. So etwa bei Bewässerungssystemen, für deren gemeinsame Nutzung sich die beteiligten Menschen, die Commoners, Regeln geben, welche eine langfristige Bedürfnisbefriedigung (Bewässerung der Felder, Schutz der Wasserqualität usw.) ermöglichen. Gleichzeitig kann Commoning auch die Grundlage dafür sein, Neues hervorzubringen: Wissen, Hardware, Software, Nahrungsmittel oder ein Dach über dem Kopf. Im Grunde gibt es nichts, was nicht als Commons denk- und gestaltbar wäre. Die Perspektive kann schließlich sein, die menschliche Gesellschaft selbst als das Gemeinsame zu begreifen, das es praktisch anzueignen und nach Maßgabe von Bedürfnissen bewusst und miteinander zu gestalten gilt. Gegenwärtig scheint die Menschheit von dieser Perspektive jedoch weit entfernt zu sein.
Menschliche Hybris oder strukturelles Gegeneinander?
Im Manifest wird unter der Überschrift »Die Mutter aller Bedrohungen« im Zusammenhang mit den großen Menschheitsproblemen die Frage als zentral identifiziert, wie »mit der Rivalität und der Gewalt zwischen den Menschen« (S.45) umzugehen sei. Diese Hervorhebung scheint berechtigt, schließlich sind Rivalität und Gewalt offensichtliche Erscheinungsformen unseres Zusammenlebens. Sie lassen sich weder ignorieren noch wegdiskutieren. Werden sie jedoch nicht auch auf ihre strukturellen Ursachen zurückgeführt, entsteht der Eindruck, dass die Ursachen ausschließlich in den Menschen selbst zu suchen seien, etwa darin, dass »jeder Mensch danach strebt, in seiner Besonderheit anerkannt zu werden«, wobei eine »gesunde Gesellschaft« es verstehe »zu verhindern, dass sich dieses Streben in Maßlosigkeit, in Hybris verwandelt« (S.48). Folgerichtig wird die »moralische Frage« gestellt, was die Individuen »sich erhoffen dürfen oder sich untersagen müssen« (S.50). Es gelte, so die Autor*innen, »den Konflikt zu einer Kraft des Lebens und nicht des Todes und die Rivalität zu einem Mittel der Zusammenarbeit zu machen, zu einer Waffe [sic!] gegen die zerstörerische Gewalt« (S.48). Wie eine solche Transformation durch moralische Gebote oder politische Maßnahmen zu erreichen wäre, wird indes nicht befriedigend beantwortet.
Ein Blick durch die Commons-Brille eröffnet hier eine Perspektive, weil er die Frage aufwirft, wie wir unsere materiellen und sozialen Lebensbedingungen herstellen. Das verweist auf zugrunde liegende Strukturen und Handlungslogiken - und erhellt so, warum das gesellschaftliche Miteinander sich häufig als ein Gegeneinander darstellt. Um dabei nicht auf der Erscheinungsebene stehen zu bleiben, ist der Ausgangspunkt der vorliegenden Überlegungen das tägliche Herstellen der Rahmenbedingungen für unser gesellschaftliches Miteinander. Zu eben diesem Rahmen gehört alles, was Gesellschaft ausmacht: Gebrauchsgegenstände, Technologien, Institutionen, Sprachen, Denkweisen, Weltanschauungen sowie Formen des Umgangs miteinander und mit der Natur. Diese gesellschaftlichen Strukturen sind einerseits Ergebnis bisherigen menschlichen Tuns, andererseits Voraussetzung und Ausgangspunkt für gegenwärtiges und zukünftiges Tun. Das Verhältnis von Strukturen und Handlungen ist also ein reflexives - das Eine speist das Andere ein ums andere Mal. Dies erklärt, warum historische Entwicklungen eine Eigendynamik hervorbringen können, die dazu führt, dass sich Strukturen verfestigen und gegenüber so mancher Handlungsabsicht verselbständigen.
Wenn Strukturen als Rahmen des gesellschaftlichen Miteinanders die Spielräume und Grenzen ihrer eigenen Veränderbarkeit bestimmen, können sie den Menschen als unverfügbar und äußerlich erscheinen, obwohl sie im Grunde menschengemacht und damit veränderbar sind. Ein Ausdruck dafür sind Menschenbilder, in denen strukturelle Handlungsbeschränkungen der gegenwärtigen Gesellschaft als überhistorische »Natur des Menschen« gedeutet werden. Tatsächlich konnte sich mit dem Kapitalismus ein Menschenbild durchsetzen, nach dem die handelnden Subjekte so erscheinen, »als wären sie getrennte Individuen, die einander gleichgültig sind und einzig darauf bedacht, ihren persönlichen Vorteil zu maximieren« (S.54; Herv. i.O.).
Die moderne Gesellschaft ist von einer Eigendynamik geprägt, die Geld zum Dreh- und Angelpunkt unseres Miteinanders gemacht hat. In immer mehr Lebensbereichen wird nur noch getan, was »sich rechnet«. Immer mehr Tätigkeiten werden auf warenförmige Verwertbarkeit ausgerichtet, was einen stets anschwellenden Güterstrom hervorbringt, der in erster Linie zum Verkauf auf Märkten bestimmt ist. Für die Produzent*innen dienen primär weder die Tätigkeiten selbst noch die durch sie hervorgebrachten Waren der konkreten Bedürfnisbefriedigung - sie sind in der Regel ein Mittel zum Zweck des Gelderwerbs. Das Geld wiederum benötigen sie, um als Konsument*innen Güter und Dienstleistungen einzukaufen. Da die Waren von Unternehmen und Solo-Kleinunternehmer*innen hergestellt werden, die untereinander um ihren Absatz konkurrieren, müssen diese ihren Gewinn beständig reinvestieren, um sich im Wettbewerb behaupten zu können. Damit wird Geld zum Selbstzweck: Es wird eingesetzt, um daraus mehr Geld zu machen, das wiederum investiert werden muss, um auch künftig noch Geld verdienen zu können. In dieser Funktion wird Geld zum Kapital - nicht ohne Grund werden derart verfasste Gesellschaften als kapitalistisch beschrieben.
Im Äquivalententausch sind die Marktteilnehmenden, auf die Menschen mitunter reduziert werden, einander gleichgültig - so wie auch das Geld ihnen gegenüber gleich-gültig im doppelten Wortsinne ist. Armen kostet ein Brot genauso viel wie Reichen. Als Konkurrierende (im nicht-konvivialistischen Sinne) sind sie füreinander sogar eine potenzielle Existenzbedrohung. Des Einen Verlust ist des Anderen Gewinn. Kooperationen und partielle Bündnisse sind damit nicht ausgeschlossen, doch auch sie haben häufig nur den Zweck, im Konkurrenzkampf erfolgreicher zu bestehen als andere. Dabei besteht die Konkurrenz gleich auf mehreren Ebenen: Unternehmen konkurrieren auf dem Markt 2 um die Kund*innen, Konsument*innen konkurrieren um günstige Angebote, Bewerber*innen konkurrieren um Arbeitsplätze, Kolleg*innen um Aufstiegschancen usw. In derartigen Rollen müssen die Tauschenden auf Kosten der jeweils anderen versuchen, das Beste aus dem Tausch herauszuholen - ob es sich bei der verkauften Ware nun um materielle und immaterielle Güter oder die menschliche Arbeitskraft handelt. Personale Beziehungen werden gemäß dieser Logik präformiert, so dass sich »alle Bereiche des Daseins bis hin zu den Affekten und den Freundschafts- oder Liebesbeziehungen einer buchhalterischen, technischen und betriebswirtschaftlichen Logik unterworfen« (S.55) sehen. Voran kommt, wer die Anderen erfolgreich hinter sich lässt. »Gierig«, »korrupt«, »maßlos« und »skrupellos« zu sein, ist funktionales und vielfach gesellschaftlich nahegelegtes Verhalten. Dieser Logik der Gleichgültigkeit, der strukturellen Gegnerschaft und Vereinzelung liegt die getrennte Weise der Produktion unserer Lebensbedingungen zugrunde: Was als Ware verkauft werden soll, muss der Verfügung derer, die ein konkretes Bedürfnis haben, zunächst einmal entzogen sein. Dieser Ausschluss funktioniert rechtlich in der Regel über das Eigentum, das prinzipiell einem Ausschlussrecht gleichkommt. Über dieses Prinzip wird die Freiheit des Einen zur Grenze des Anderen und die Teilhabe der Einen zur Ausgrenzung der Anderen. Deswegen bezeichnen wir diese Logik des Sich-auf-Kosten-von-anderen-Durchsetzens als Exklusionslogik.3
Solidarische Beziehungen müssen explizit gegen die Handlungslogik der Warenproduktion errungen werden, was sie immer prekär macht, weil sie nur funktionieren, solange sie das Überleben im Markt nicht zu stark behindern. Den von der Exklusionslogik ausgehenden Handlungszwängen - die jeden guten Vorsatz schnell zunichtemachen können - ist mit Appellen für mehr Ethik und Moral nur schwer beizukommen. Die Angst, übervorteilt oder ausgenutzt zu werden, kann zu berechtigtem Misstrauen, entsprechenden Absicherungsstrategien und vielfältigen Formen der Ausgrenzung führen. Sie halten die Spaltungen aufrecht, die wir entlang verschiedener sozialer Merkmale finden können: Klasse, Geschlecht, sexuelle Präferenz, Hautfarbe, Alter, Bildung, Sprache usw. Da die Exklusionslogik ausgrenzendes Verhalten belohnt, kann auch die rechtliche Gleichstellung diese Spaltungen nicht wirklich überwinden. Wenn gar mit Verweis auf eine angebliche Chancengleichheit - und im Namen der sogenannten Leistungsgerechtigkeit - Privilegien gerechtfertigt und die jeweiligen Verlierer*innen für ihre Misserfolge individuell verantworlich gemacht werden, kann formale Gleichberechtigung reale Ungleichheit sogar festigen.
Die Tragik der Märkte
Die beschriebene Tausch- und Geldlogik trägt auch zum im Manifest beklagten Wachstumszwang bei, der im Kern ein Verwertungszwang unter Bedingungen der Konkurrenz ist. Kapital muss »sich rechnen«, also vermehren. Dies gelingt nur, wenn der eigene Marktanteil - auf Kosten Anderer - gesichert oder erweitert werden kann, indem der Marktpreis erreicht oder durch die Verbilligung der Produktion unterboten wird. Und das wiederum wird über Produktivitätssteigerungen durch technische Innovation und - was oft die andere Seite der gleichen Medaille ist - durch geringeren Arbeitseinsatz erreicht. Die derart erhöhte Produktivität erzeugt am Ende mehr Waren, die Absatz finden müssen, um den Ertrag zu halten oder auszuweiten. Mit immer geringerem Arbeitsaufwand werden so immer mehr Dinge mit immer größerem stofflichem und energetischem Ressourceneinsatz produziert - trotz oder gerade durch Effizienzsteigerungen. Da dies alle Konkurrenten am Markt tun, mehr noch: tun müssen, um ihre Existenz zu sichern, entsteht ein Wachstumszwang, dem sich die einzelnen Akteure innerhalb dieser Strukturen nicht entziehen können. Wir können hier von einer »Tragik der Marktlogik« sprechen.
Der »produktiven« Exklusionslogik von Berechnung, Verwertung und Vernutzung steht die »reproduktive« Inklusivität zugewandter und fürsorgender Beziehungen gegenüber. Tatsache ist, dass die sogenannte Reproduktion, die Herstellung und Erhaltung der Grundlagen unseres Lebens, die Basis jeder Gesellschaft ist, ohne die auch kapitalistische Strukturen nicht bestehen können. Weil sie jedoch nicht mit der Konkurrenz- und Exklusionslogik des Marktes kompatibel ist, wird sie in die - meist weibliche - Sphäre des Pri- vaten (Haushalt) ausgelagert. Eine konviviale, das Zusammenleben fördernde Gesellschaft müsste diese Lebensgrundlagen selbst ins Zentrum ihrer Aktivitäten stellen. Dazu gehören auch die Naturgrundlagen unserer Existenz, die in kapitalistischen Zusammenhängen primär auszubeutende Ressource zum Zweck der Verwertung sind. Menschen sind jedoch Teil der Natur und können nicht gegen sie leben, ohne sich selbst zu schaden. Eine menschliche Reproduktion im umfassenden Sinne funktioniert daher nur, wenn sie die ökologi- sche Logik natürlicher Stoff kreisläufe als Voraussetzung und Bestandteil der eigenen Bedürfnisbefriedigung berücksichtigt.
Perspektivenwechsel
Auf der Suche nach grundsätzlichen Alternativen und zur Schärfung unserer Sinne für eine neue »Kunst des Zusammenlebens« müssen wir nach Begriffen und Kategorien suchen, die mit den kritisierten Grundannahmen und Begrifflichkeiten brechen, um uns einer Gesellschaftlichkeit auf Grundlage positivreziproker Strukturlogiken zu nähern. Dabei geht es um ganz grundsätzliche Fragen: Wie wollen wir unsere Lebensbedingungen so herstellen, dass niemand unter die Räder kommt - auch kommende Generationen nicht? Und wie können sich alle Betroffenen an diesem Prozess beteiligen? Dieser Ansatz vereint die in moralische, politische, ökologische und ökonomische Kategorien aufgeteilten »großen Fragen« (S.50), weil er all diese Bereiche nicht als voneinander unabhängig fasst, sondern so aufeinander bezogen denkt, wie sie uns real begegnen.
Das Manifest formuliert vier Prinzipien einer »einzig legitimen Politik«: gemeinsame Menschheit, gemeinsame Sozialität, Individuation und Konfliktbeherrschung (S.61). Zwar kann man diskutieren, inwiefern es sich bei der in den ersten beiden Prinzipien aufgehobenen Gesellschaftlichkeit des Menschen eher um eine genuine Wesensbestimmung des Menschen als um ein politisches Prinzip handelt - doch ins Bewusstsein zu rufen, dass wir eine Menschheit und die Menschen gesellschaftliche Wesen sind, erscheint uns in jedem Falle sinnvoll. Ebenso unterstützen wir das mit »Individuation« verbundene Ziel, es jeder und jedem Einzelnen zu ermöglichen, eine »besondere Individualität zu entwickeln, indem er seine Fähigkeiten entfaltet, sein Vermögen, zu sein und zu handeln, ohne den anderen zu schaden, im Hinblick auf eine für alle gleiche Freiheit« (S.61; Herv. i.O.). Unter »Konfliktbeherrschung« wird schließlich verstanden, »sich zu unterscheiden und dabei den Konflikt zu akzeptieren und zu beherrschen« (S.62).
Entscheidend ist jedoch, dass diese vier Prinzipien dem Handeln nicht im Sinne von moralischen Imperativen vorausgesetzt werden müssen: Unter entsprechenden Bedingungen bringt das Handeln jene Prinzipien tendenziell selbst hervor. In gelingender Commons-Praxis entstehen positiv-reziproke Be- ziehungen, die es notwendig machen, Konflikte friedfertig und konstruktiv zu lösen. Eine solche Beziehungskultur erweitert die individuelle Freiheit, indem im Prozess des Commoning sowohl die konkreten Besonderheiten der beteiligten Menschen als auch die empfundene Fairness in der Kooperation zur Geltung kommen. Die Alternative zur konkurrenzförmigen Entfaltung der Individualität besteht nicht in der Gleichmachung von Ungleichen, sondern in der Entfaltung Aller in ihrer jeweiligen Besonderheit, und zwar so, dass niemand unter die Räder kommt, dass niemandes Bedürfnisse ignoriert werden und dass der in der exklusionslogischen Praxis wirkende Mechanismus - des Einen Gewinn ist des Anderen Verlust - überwunden wird.
Verantworten und In-Beziehung-Sein
Merkmal der Exklusionslogik der Warenproduktion ist, dass vorankommt, wer sich auf Kosten anderer durchsetzt und dabei partielle Bündnisse eingeht. Dem steht die Inklusionslogik4 als bestimmendes Merkmal von Commons gegenüber. Hier gedeiht, was genügend viele und geeignete Mitmachende findet. Die grundsätzliche Freiwilligkeit, der in der Warenlogik der Zwang zur (Selbst-) Verwertung gegenübersteht, setzt voraus, dass Strukturen einladend und motivierend sein müssen. Commons-Projekte können nur dann langfristig bestehen, wenn sich die Menschen in ihnen wohl fühlen und auf subjektiv erfüllende und sinnhafte Art und Weise einbringen können. Das geht nur, wenn auch die Anliegen der Anderen berücksichtigt werden. Die Inklusionslogik der Commons ist auf die Entfaltung der konkreten Besonderheit des individuellen Menschen als Voraussetzung für die Entfaltung aller Menschen ausgerichtet. Wenn dies in Commons-Kontexten gelingt und ein Mensch beispielsweise neue Fähigkeiten entwickelt, die er dann einbringen kann, nützt das tendenziell auch allen anderen, weil anstehende Aufgaben besser, einfacher oder von mehr Menschen erledigt werden können. Je größer der Fähigkeitenpool, aus dem kollektiv geschöpft werden kann, desto besser. Diese Beziehungsform der positiven Reziprozität, der potenzialfördernden wechselseitigen Bezogenheit, unterscheidet sich fundamental von der strukturell exkludierenden negativen Reziprozität der Warenlogik. Sie erzeugt nicht Vereinzelung, sondern eine strukturelle Gemeinschaftlichkeit (Meretz 2014).
Eine weitere Differenz zur Warenlogik ist wesentlich: Die Produktion von Waren ist prinzipiell durch fremde Zwecke bestimmt. Waren müssen so beschaffen sein, dass sie verkäuflich sind. Bei Commons geht es um die je eigenen Zwecke, weshalb die Befriedigung der Bedürfnisse auch dann gelingen kann, wenn Markt und Staat entweder versagen oder bestimmten Lebensbereichen gegenüber blind sind. Für »den Markt« ist Bedürfnisbefriedigung nur ein Nebeneffekt und nur dann relevant, wenn diese »marktfähig« ist oder gemacht werden kann. Bedürfnisse, die nicht zum Absatz beitragen, bleiben unberücksichtigt. Sie werden externalisiert. In kapitalistischen Strukturen erfolgt die Vermittlung von Bedürfnissen gesellschaftlich gesehen über den Markt oder den Staat ex post, also nachdem die Waren, mit ihren entsprechenden Nutzen oder Schäden, produziert und zu Markte getragen wurden. Bedürfniskonflikte können daher im Nachhinein nicht mehr aufgelöst werden. Diese Isolation der unterschiedlichen Bedürfnisse und ihre voneinander unabhängige Befriedigung bringt jeden Einzelnen von uns in eine Situation struktureller Verantwortungslosigkeit.
Wir können diese Strukturdefizite nicht individuell kompensieren. Niemand kann alle Externalisierungen kennen, die durch den eigenen Einkauf gefördert werden, geschweige denn sie vermeiden oder beseitigen. Wenn auch das Öko-Waschmittel monokulturell angebautes Palmöl enthält, dann werden die Grenzen ethischen Konsums deutlich. So verfehlen viele Bemühungen, »korrekt einzukaufen« letztendlich ihre intendierte Wirkung. Es mag zwar subjektiv ein »besser als« geben, wirklich emanzipatorisch und selbstbestimmt wird das Handeln dadurch jedoch nicht. Man kann es auch so formulieren: Die faktische Unmöglichkeit verantwortlichen Handelns resultiert in struktureller Selbstfeindschaft. Befriedige ich ein Bedürfnis, so verletze ich ein anderes - von mir selbst oder von Anderen. Umgekehrt schaden Andere mir, ohne es subjektiv zu wollen. Automobilität steht gegen Ruhebedürfnis der Straßenanrainer, Arbeitsplätze gegen saubere Umwelt, CO2-Reduktion »hier« gegen Tropenwalderhaltung »dort« usw. Unser Handeln richtet sich am Ende gegen uns selbst, weil es Bedingungen unterworfen ist, in denen Bedürfnisse nicht aufeinander bezogen sind. Strukturelle Selbstfeindschaft offenbart sich im Gegeneinander unterschiedlicher Partialinteressen, die durch die Personen selbst hindurch gehen.
Die Problematik wird klarer, wenn wir uns erneut der Logik der Commons zuwenden. Hier haben die Menschen die Möglichkeit, ihre unterschiedlichen Bedürfnisse zu internalisieren und ex ante zu vermitteln. Internalisierung bedeutet, Bedürfnisse einzubeziehen und nach einem Weg zu suchen, sie umfassend zu befriedigen. Geschieht dies vor und im Laufe der Produktion, eines Projektes oder Prozesses, wird es möglich, die unterschiedlichen Vorstellungen und Wünsche aufeinander zu beziehen und Konflikte kommunikativ so zu vermitteln, dass sich niemand - etwa aufgrund von Machtungleichgewichten - auf Kosten von anderen durchsetzt. Das ist nicht einfach, und die gegebenen restriktiven Bedingungen legen den konkreten Projektbeteiligten meist Steine in den Weg. Doch grundsätzlich bietet die Inklusionslogik der Commons einen Rahmen zu struktureller Verantwortungsfähigkeit. Eine Garantie für gute Lösungen gibt es gleichwohl nicht, doch nur wer über die produktiven Mittel und Ressourcen für die selbstbestimmte Herstellung der Lebensbedingungen verfügt, hat überhaupt erst die Möglichkeit, auch auf das Ganze bezogen verantwortungsvoll zu handeln.
Commons auf allen Ebenen
Die kapitalistische Ökonomie hat sich in ihrem Verwertungs- und Wachstumszwang gegen die Ökologie verselbständigt. Dabei verweist der Begriff Ökonomie in der lateinisch-wortursprünglichen Bedeutung von »Haushalten« darauf, mit den Ressourcen, die zur Verfügung stehen, die Bedürfnisse aller, so weit möglich, zu befriedigen. Soll eine so verstandene Ökonomie nicht ihre eigene Basis zerstören, so muss sie die Wechselwirkung von menschlichen Bedürfnissen und außermenschlichen Naturzusammenhängen zur Grundlage des Handelns machen. Dieser Idee folgt beispielsweise die Permakultur, die versucht, die Nahrungsmittelproduktion in selbsterhaltende natürliche Kreisläufe einzubetten. Selbstregulationsprozesse in Ökosystemen werden gezielt unterstützt und genutzt, um die Voraussetzungen für eine dauerhafte menschliche Bedürfnisbefriedigung zu erhalten und zu verbessern, anstatt die Naturausbeutung kurzfristig zu maximieren. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass alle ökologischen und sozialen Aspekte, die für ein so gestaltetes gesellschaftliches Naturverhältnis erforderlich sind, einbezogen werden. Commons können dafür einen geeigneten strukturellen Rahmen bieten, denn in der inklusiven vorausschauenden Handlungsweise des Commoning geht es darum, die Bedürfnisbefriedigung nicht nur momentan, sondern langfristig sicherzustellen.
Wie auch die hier angebrachten Beispiele suggerieren mögen, werden Commons zumeist mit lokalem Handeln in konkreten Projekten verbunden, in denen sich die Menschen kennen und unmittelbar interagieren können. Eine Übertragung dieses Handlungsrahmens auf regionale oder überregionale Ebenen scheint wegen des (u.a. kommunikativen) Aufwands kaum vorstellbar. Doch aus unserer Sicht gilt der Zeitaufwand für die direkte - und durchaus auch redundante - kommunikative Vermittlung unterschiedlicher Bedürfnisse, vor allem vor dem Hintergrund der durch permanente Verbilligung erzwungenen Zeiteinsparung in der partialisierten Privatproduktion, als »ineffizient«. Jedoch ist eine auf den Commons gründende Weise der Herstellung der Lebensbedingungen gesamtgesellschaftlich betrachtet vermutlich effizienter, im dem Sinne, dass sie eher auf Vorsorge, Erhaltung und Schadensvermeidung als auf Nachsorge, Verschleiß und Schadensbewältigung ausgerichtet ist. Commoning wird zudem oft als individuell befriedigender erlebt, da durch die Freiwilligkeit der produktiven Tätigkeiten in der tatsächlichen Zeitverausgabung die Lebensqualität liegt und diese nicht in die abgespaltene Sphäre der Familie, Ehe, Freizeit, Urlaub etc. ausgelagert ist. Aus Commons-Perspektive geht der Weg hin zu einer zukunftstauglichen Gesellschaftsform nicht über bloßen Verzicht, sondern gerade über ein dauerhaft gutes und erfülltes Leben für alle, welches durch die umfassende Einbeziehung aller Lebensbedürfnisse auch die Einhaltung der planetaren Grenzen einschließt.
Einige weitere Beispiele, die die Vielfalt von Commons-Projekten und deren Potenzial für die Schaffung global-vernetzter Kooperationszusammenhänge illustrieren, seien genannt. »Wikipedia« (wikipedia.org) ist eine Online-Plattform zur offenen Erstellung und Nutzung von enzyklopädischen Artikeln und hat auf diese Weise die proprietären, geschlossenen Pendants wie die »Encyclopedia Britannica« oder den »Brockhaus« auskooperiert 5. »Wikispeed« (wikispeed.com) ist ein offenes Projekt zur Herstellung von Autos, die modular aufgebaut sind, wenige Ressourcen verbrauchen und die Verfügung über das Gut wieder zurück in die Hände der Nutzer gibt. »Farm Hack« (farmhacknet)., »Wikihouse« (wikihouse.org) oder »Opendesk« (opendesk.cc) sind globale Online-Plattformen, auf denen Menschen aus der ganzen Welt Baupläne für landwirtschaftliche Maschinen, für Häuser und für Möbel hochladen, die andere dann entsprechend ihren Bedürfnissen adaptieren und mit den vorhandenen Ressourcen lokal nachbauen können. Diese beispielhafte Projektauswahl könnte beliebig verlängert werden. Spannende Entwicklungen gibt es in allen Bereichen der Produktion: Elektronik, Pharmazie, Biotech, Robotik, Medizin, Kleidung etc. Bei all diesen Projekten sind die Pläne frei zugänglich. Open Source und offene Kooperation sind Designprinzipien, die sich aus der Praxis ergeben und ohne die ein derartiges kollektives Tätigsein nicht möglich wäre.
Bemerkenswert sind auch die tatsächlichen Unterschiede in der physischen Beschaffenheit der resultierenden Produkte verglichen mit ihren Warenpendants. Die Produkte sehen nicht nur anders aus, sie sind in der Regel modular aufgebaut, zugänglich, dokumentiert, reparierbar, haltbar, ressourcenschonend hergestellt etc. Kriterien, die unter Verwertungsbedingungen üblicherweise kaum Beachtung finden, sind hier Konstruktionsprinzipien von Anbeginn der Entwicklung. Allerdings soll hier keine idealistische Schönschreibung betrieben werden - alle heutzutage vorfindlichen Commons-Projekte haben auch mit Problemen umzugehen und tun dies mitunter auf widersprüchliche Art und Weise. Es ist deutlich sichtbar, dass all diese Ansätze im strukturell feindlichen Umfeld kapitalistischer Marktwirtschaft bestehen müssen. Es geht damit auch immer um die Finanzierung von Vorhaben. Hierbei muss sich immer wieder die schwierige Frage gestellt werden, inwieweit sich auf Marktlogiken eingelassen wird oder dem auch in der Finanzierung widerstanden werden kann (etwa durch Crowdfunding, Stiftungsfinanzierung oder Spenden).
Polyzentrische Selbstorganisation
Es ist deutlich geworden, dass wir sowohl marktbasierte als auch auf moralischen Appellen gründende Reformen zur Abmilderung bestimmter Auswüchse kapitalistischer Strukturen für unzureichend halten. Stattdessen erachten wir ein anderes Denken für notwendig sowie strukturelle Veränderungen unserer Produktionsweise, der Herstellung unserer Lebensbedingungen. Commons eröffnen diese Möglichkeit theoretisch wie praktisch. Doch sind sie verallgemeinerbar? Lässt sich eine gesamtgesellschaftliche Perspektive auf dieser Grundlage entwickeln? Lassen sich tatsächlich die notwendigen Güter, Dienste und Sozialstrukturen nicht in Warenform, sondern als Commons herstellen? Es gibt eine Reihe von Indizien dafür, dass diese Frage mit Ja beantwortet werden kann.
Eine auf Commons basierende Gesellschaft lässt sich als soziales Makronetzwerk denken, in dem die dezentralen Commons-Einheiten verteilte Knoten im Netz darstellen. Große soziale Netzwerke bilden über interne Ausdifferenzierung funktionale Cluster und Hubs (Verdichtungen und Knotenpunkte) mit vielen Verbindungen. Sie sind dadurch flexibel restrukturierbar und fehlertolerant, so dass abgetrennte Teilnetze beim Ausfall wichtiger Hubs (z.B. bei Katastrophen) weiterhin ihre Funktion erfüllen können. Diese Eigenschaften wurden bereits in großen Commons-Strukturen wie beispielsweise Bewässerungssystemen beobachtet und als polyzentrische Selbstorganisation gefasst. Anders als in hierarchischen Systemen mit einem Entscheidungszentrum an der Spitze, bilden sich viele Zentren heraus, die jene differenzierten Funktionen wahrnehmen, die eine aufgabenteilige Gesellschaft braucht (Re-/Produktion, Infrastrukturen, Koordination, Planung, Information etc.). Entscheidend ist dabei, dass die spezialisierten Funktionen in das gesamtgesellschaftliche Vermittlungsnetz eingebettet bleiben und auch als Commons organisiert sind. Die gesellschaftliche Vermittlung funktionierte somit nach einer anderen Logik und wäre nicht von der Re-/Produktion getrennt: Weder die Vorstellung einer »unsichtbaren Hand« des Marktes noch staatliche Planung lenkten und leiteten diese Vermittlung, vielmehr organisiert und koordiniert die Gesellschaft sich selbst, orientiert an ihren realen Bedürfnissen.
Ein Perspektivenwechsel ist erforderlich: Statt entfremdeter Planung und Organisation der Produktionsprozesse geht es um die Selbstplanung und Selbstorganisation durch die Menschen - Produzent*innen wie Nutzer*innen. Statt für Andere die Prozesse zu organisieren und zu planen, sind die Bedingungen und organisatorischen Infrastrukturen durch die betroffenen Menschen selbst zu schaffen. Die Frage ist also nicht, ob geplant wird, sondern für und durch wen, wie, wo, und entlang welcher Kriterien. Jede Gesellschaft ist in diesem Sinne eine »Plangesellschaft«. Der Perspektivenwechsel besteht nun darin zu erkennen, dass die Menschen dann ihre Angelegenheiten erfolgreich in die eigenen Hände nehmen können, wenn sie dafür geeignete Entfaltungsvoraussetzungen haben. Diese sind unter warengesellschaftlichen Bedingungen - gleich ob durch Markt, Zentralplan oder Mischformen vermittelt - allenfalls vereinzelt gegeben. Eine auf Commons basierende und Commons schöpfende gemeinschaftlich-vernetzte Produktionsweise kann hingegen die Voraussetzung für eine gesellschaftliche Vermittlung auf Basis polyzentrischer Selbstorganisation schaffen, die ihrerseits die Voraussetzung für die allgemeine menschliche Selbstbestimmung und -entfaltung sein kann.
Zum Schluss
Wir sind davon überzeugt, dass Commons jene »Kunst des Zusammenlebens« repräsentieren können, »die die Beziehung und die Zusammenarbeit würdigt und es ermöglicht, einander zu widersprechen, ohne einander niederzumetzeln, und gleichzeitig für einander und für die Natur Sorge zu tragen« (S.47). Anders gesagt: Commoning ist - wenn es gelingt - konviviale Praxis und muss als solche immer wieder neu eingeübt werden. Das ist nicht so, weil Commoners die besseren Menschen sind oder einer Ethik folgen, die andere noch nicht verstanden haben, sondern weil Commons eine qualitativ andere Weise sind, die Lebensbedingungen herzustellen - eine Weise, in der es funktional ist, inklusiv und nicht ausgrenzend, ressourceneffizient und nicht-verschleudernd, bedürfnis- und nicht verwertungsorientiert zu handeln. Derartige Lebensbedingungen sind weder das Schlaraffenland noch frei von Konflikten, doch sie sind Voraussetzung dafür, unsere Unterschiede so zu leben und unsere Konflikte so auszutragen, dass niemand mehr unter die Räder kommt.
Literatur
Gronemeyer, Marianne (o.J.): Convivial. Der Name ist Programm, www.convivial.de/about5.html (Zugriff am 30.01.2015).
Holmgren, David (2014): Permakultur. Gestaltungsprinzipien für zukunftsfähige Lebensweisen, Klein Jasedow: Drachenverlag.
Meretz, Stefan (2014): »Grundrisse einer freien Gesellschaft«, in: Tomasz Konicz/ Florian Rötzer (Hg.), Aufbruch ins Ungewisse. Auf der Suche nach Alternativen zur kapitalistischen Dauerkrise, Hannover: Heise S.152-182.
Fußnoten zu "Hintergründe der deutsche Debatte"
1 Vgl. etwa das Schwerpunktheft zum Thema »conviviality« des European Journal of Cultural Studies, Vol. 17, Nr. 4, August 2014.
2 Seitenzahlen ohne weitere Quellenangaben beziehen sich hier und im Verlauf des gesamten Buches auf folgenden Text : Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens, hg . Frank Adloff und Claus Leggewie in Zusammenarbeit mit dem Käte Hamburger Kolleg /Centre for Global Cooperation Research Duisburg , Bielefeld: transcript 2014. Die deutsche Fassung des Manifests ist zudem online verfügbar unter : www.diekonvivialisten.de
3 Die wichtigste Entwicklung im Bereich der Zivilgesellschaft war dabei die Überwindung von lange bestehenden inhaltlichen Differenzen und dann im Oktober 2013 die Gründung des organisatorischen Daches Les Etats généraux du pouvoir citoyen durch Le Pacte civique, le collectif Roosevelt, le movement des Colibris, ATTAC und die Gruppe Dialogues en humanités. Aktuell wir dder Name des Dachverbands geändert in Mouvement convivialiste pour lebien vivre. Und die Dialogues en humanité nennen sich in Dialogues convivialistes en humanité um. Übersetzungen des Manifests liegen der zeit auf Deutsch, Englisch, Italienisch und Portugiesisch vor.
4 In der indischen Hauptstadt Neu-Delhi werden Makaken, kleine flinke Affen mit kräftigen Körpern, die auf manchen öffentlichen Plätzen zu einer regelrecht en Plage geworden sind, nicht mehr getötet, sondern durch städtische Angestellte verscheucht, die gekonnt die Schreie und Bewegungen von Languren, einer größeren Primatenart, nachahmen.
5 Es ist doch jedenfalls bemerkenswert, in welchem Maße die demokratische Ermittlung von Kriterien der »Lebensqualität« heute sogar in die offizielle Politik Eingang findet. Unter dem Projekttitel »Gut leben - Lebensqualität in Deutschland« plant die Bundesregierung bis 2016 zahlreiche Veranstaltungen, um Wortmeldungen zu diesem Thema von allen Bevölkerungsgruppen einzusammeln und auszuwerten. Ähnliche Projekte gab es bereits auf städtischer Ebene in den USA , etwa in Jacksonville, Florida, oder Santa Cruz, Kalifornien.
6 Andere Wissenschaftler bestreiten allerdings, dass die neuen technologischen Prozesse primär die Mittelschichten treffen werden. Frey and Osborne (2013) halten in einem viel zitierten Artikel knapp die Hälfte aller gegenwärtigen Arbeitsplätze für potenziell gefährdet, argumentieren aber, dass vor allem die schlecht qualifizierten und schlecht bezahlten Jobs unter Druck geraten, während die Mittelschichten gut davonkommen.
Fußnoten zu "Commoning"
1 Alle Autor*innen sind Mitglieder des 2014 gegründeten Commons-Institut e.V.
2 In diesem Kontext ist »der Markt« gemeint im Sinne des anonymen Marktmechanismus, der sich im Spiel von Angebot und Nachfrage vorgeblich gesetzmäßig durchsetzt.
3 Die Exklusionslogik ist zwar tief in die alltäglichen Handlungen der Menschen eingesunken, dies beweist jedoch nicht ihre »Natürlichkeit«.
4 Die Inklusionslogik schließt Exklusionen nicht per se aus, doch sie verlieren ihre zentrale Funktion. Unter Bedingungen der Exklusionslogik sind Inklusionen nur Mittel zu einem anderen Zweck - nämlich sich gegen Andere effektiver durchsetzen zu können. Anders unter Bedingungen der Inklusionslogik, wo Inklusionen weitere Inklusionen befördern, also Selbstzweck sind. Ausschlüsse sind hier allenfalls dann ein verhandelbarer Mechanismus zum Zwecke der (Erhaltung von) Inklusion, wenn die Inklusionslogik gesellschaftlich nicht bestimmendes Prinzip ist.
5 Freie Projekte können ihre Kooperation weiter fassen als proprietäre Unternehmen: Jeder kann mitmachen und die Ergebnisse frei nutzen.